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Arthur Schnitzler
„11. Juni 1915
Der Zionismus (an sich eine schöne Idee, die bisher nur mehr mit feuilletonistischem Geist
als mit politischem Weitblick behandelt wird) gebraucht als hauptsächliches Mittel, um
säumige Juden zu seinen Fahnen herüberzuziehen, den lauten Ruf : ‚Wie lange wollt Ihr
Euch noch beschimpfen lassen ? Verlangt es nicht Euer Stolz, diesen Beschimpfungen zu
entgehen ? Ist es nicht Euerer unwürdig, unter Menschen zu leben, die Euch verachten ?‘
Meine Erwiderung darauf ist so einfach als möglich : ‚Keinem Menschen auf der Welt kann
es jemals gelingen, mich zu beschimpfen. Man kann mich anschreien, mich verhöhnen,
mich – wenn es mehrere sind, und die Antisemiten sind immer mehrere – durchprügeln,
mich verleumden, mich kreuzigen, mich verbrennen … kurz, alles auf der Welt, aber gerade
beschimpfen kann man mich nie. Wenn zur Beschimpfung nichts anderes gehörte als der
gute Wille dessen, der schimpft, wer ginge dann nicht schmachbeladen herum ? Wo lebt der
Mann, den noch kein Hund angebellt, kein Floh gebissen, kein besoffener Plattenbruder
unflätige Worte zugeschrien ? (Es kann auch ein besoffener Student gewesen sein – was die
Sache nicht im Geringsten ändert.) Ist irgendeinem von diesen Beschimpften an ihrer Ehre
Abbruch geschehen ? Ist einer dadurch weniger geworden ? Ist durch die Tatsache, daß ein
andrer stärker, roher oder unzurechnungsfähig war, derjenige, der durch die Stärke, durch
die Roheit, durch die Bewußtseinstörung jenes andern einen Schimpf erlitten hat, ein and-
rer geworden ? Geärgert, geschädigt, vernichtet werden kann man ohne Schuld ; beleidigt
kann der Schuldlose niemals werden. So kann durch den Antisemitismus der Jude geärgert,
geschädigt und vernichtet werden – aber beschimpft niemals.
Sie rechnen uns nicht zu ihresgleichen. Ich möchte es mir auch verbeten haben. Sie fin-
den, ich sei kein Österreicher wie sie. Vor allem bin ich ich, was mir für das Erste genügt,
und daß ich in Österreich auf die Welt gekommen bin, kann mir niemand abstreiten. Wenn
Millionen Cretins finden, daß ich nicht hierher gehöre, so weiß ich’s besser als diese, daß ich
hier heimischer bin als sie alle. Es ist eine Tatsache, daß das Wesen Österreichs und Wiens
von den Juden heute stärker empfunden und ausgedrückt wird als von den Antisemiten.
Und wenn die Million findet, daß ich hier nicht zuhause bin, so erwidere ich, daß für mich
nichts anderes maßgebend ist als mein (persönliches) Gefühl. Sie empfinden mich als Frem-
den – schön. Aber können sie mich denn überhaupt als etwas empfinden ? Gewiß ist’s, daß
ich alles, was den Zauber und die Traurigkeit meines Vaterlandes ausmacht (ich spreche das
Wort ‚Vaterland‘ ohne jede Rührung und ohne Loyalität, einfach als Tatsache aus), tausend-
mal besser fühle als diejenigen, die mich hinausjagen möchten ! Was immer sie reden oder
Arthur Schnitzler, „‚Ich habe Heimatgefühl, aber keinen Patriotismus.‘ Unveröffentlichte Aufzeichnun-
gen und Aphorismen“, in : Literatur und Kritik 269/270 (1992), S. 55–62. S. 58ff. Aus der Art der
Präsentation dieser Betrachtungen in der Zeitschrift Literatur und Kritik ist nicht klar ersichtlich, ob sich
das angegebene Datum bzw. die Jahreszahl jeweils nur auf die unmittelbar anschließende oder auch auf
alle folgenden Notizen bezieht. Ich bin von letzterer Variante ausgegangen.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519