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0 Bettina Riedmann
tun mögen, ich werde mich niemals von ihnen beschimpft fühlen und weise ausdrücklich
die Gemeinschaft mit allen denjenigen zurück, die an dieser Empfindung leiden.
Beschimpft ist derjenige, der etwas Schimpfliches begeht, nicht der, der Schimpfliches
erleidet. Beschimpft sind die Wucherer, weil sie wuchern, nicht weil man sie bestraft. Be-
schimpft ist ein Dieb, der Gemeindegelder unterschlägt oder seinem Schlafkameraden Geld
stiehlt, auch wenn er der Gerechtigkeit entwischt. Der Verleumder ist beschimpft, nicht der
Verleumdete. So wahr ist es, daß man nur sich selbst beschimpfen kann und niemals einen
anderen. Wär’ es anders, so hätten die Verleumder recht und jeder Schlechte könnte jeden
Guten moralisch ruinieren, wann es ihm beliebte. Auf diesen Irrtum bauen die Antisemiten
größtenteils ihren Vernichtungskrieg gegen die Juden. Aus den oben angeführten Gründen
müßte er eigentlich vergeblich sein, wenn die Juden wirklich so vernünftig wären, wie man
manchmal behauptet.
Manchem haben die Antisemiten schon geschadet und vielen werden sie schaden. Nicht
nur an Gut, sondern auch an Gesundheit und Leben. Schmach leiden wird nur der, der die
Schmach der anderen als seine eigene empfindet.‘“
Das verzweifelte Bemühen Schnitzlers, sich die ständigen antisemitischen Anfein-
dungen vom Leibe zu halten, münden hier in den Versuch, sich einen aus rationalen
Argumenten zusammengesetzten Schutzschild zu konstruieren. Dass dieses Konst-
rukt einer seelischen Unverwundbarkeit aber permanent in sich zusammenzubrechen
drohte, dessen war er sich selbst bewusst. Als ihm 1903 von seinem deutschen Verle-
ger telegrafiert wurde, dass er in der Deutschen Zeitung scharf angegriffen worden sei,
schrieb er an seine spätere Frau Olga : „Sosehr ich weiß, daß die Deutsche Zeitg. das
gemeinste Blatt der Welt ist und alle diese Sachen im wesentlichen wurst sind ; – ich
befinde mich trotzdem in einem ununterbrochnen Zustand der Irritation, – ähnlich,
ich kanns gar nicht anders sagen, als wenn meine ganze Haut wund wäre.“
Während des Ersten Weltkriegs und in der unmittelbaren Nachkriegszeit kulmi-
nierten der äußere Druck und auch das innere Bedürfnis, die eigene Zugehörigkeit zu
definieren und Loyalitätsversprechungen abzugeben. Schnitzler versuchte damals, das
Verkannt-Werden als Gemeinsamkeit in den Mittelpunkt zu stellen : „‚Echt oesterrei-
chisch‘ sagen sie draußen (trotz aller Bundestreue -) wenn sie etwas mißbilligen (bei
uns übrigens auch -) – sagt aber einer hier ‚echt deutsch‘ – wenn von draußen irgend
was trampeliges oder plattes oder schnoddriges hereingeliefert wird ? In Oesterreich
haben wir uns die Bezeichnung ‚Echt deutsch‘ für alles edle, starke, schöne aufgespart
– (wie die Deutschen selbst) – wir verbinden die Worte ‚echt‘ und ‚deutsch‘ – nur zum
Zweck des Preisens miteinander ; – und drüben gerade das Gegentheil. Es geht uns
Schnitzler, Briefe Bd. I : 1875–1912, 10.4.1903, S. 461 (an Olga Gussmann).
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519