Page - 397 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Mit einem ›e‹
wir bei Roth auch, wie qualvoll es sein kann, in der Fremde zu leben. Die Wander-
schaft als eine von außen aufgezwungene, auch innere Unruhe ist das Symptom dieses
Leids , das für ihn wie für Morgenstern konstitutiv für die jüdische Identität ist.
Bei aller strukturellen Ähnlichkeit sind doch Unterschiede zwischen Roths Idee
der Mischung und den postmodernen Hybriditätskonzepten unübersehbar. Im Falle
Roths stehen sogenannte autochthone, „orientalische“, das heißt vormoderne Minori-
täten im Zentrum, während es sich in den postkolonialen Theorien um postmoderne
Migrationsminoritäten handelt. Bei Roth wird melancholisch ihr unweigerliches Ver-
schwinden beklagt, im angelsächsischen Bereich werden sie zu neuen Hoffnungsträ-
gern eines postnationalen Bewusstseins. In diesem Zusammenhang ist auffällig, dass
Israel selbst, von seiner arabischen Minderheit einmal ganz abgesehen, ein hybrides
Gebilde ist, eben weil nach 1948 Menschen aus den verschiedensten Herkünften in
das Land eingewandert sind und so neue Differenzen in Kultur, religiöser Orientie-
rung und Sprache produzieren.
Roths Selbstkonstruktionen sind in gewisser Weise tragikomisch, aber das heißt
nicht, dass sein Einwand gegen eine Konstruktion jüdischer Identität nach dem Vor-
bild des europäischen territorialen Nationalstaates heute an Brisanz verloren hat. Sein
Argument, wonach der Zionismus ein Notbehelf gewesen ist, sollte man – im Sinne
der Aufrechterhaltung kritischen Bewusstseins, nicht im Sinne einer prinzipiellen
Denunzierung – ernst nehmen, auch jene pointierte These, wonach er eine Geißel
des Kolonialismus, Postkolonialismus und der Dialektik des europäischen Nationalis-
mus geworden ist. Das Jüdische ist mehr als der Staat Israel, auch wenn sich durch
die schiere Existenz dieses Staates die jüdische Identität maßgeblich verändert haben
mag und nicht nur die Juden in aller Welt, sondern auch Europäer und Nordame-
rikaner zu kritischer Loyalität verpflichtet. Das ändert nichts an der Rolle, die Roth
dem Judentum zugeschrieben hat (Diaspora) und die, en passant gesprochen, an Julia
Kristevas Konzeption des Fremden erinnert : an ihre Interpretation von Judentum
und frühem Christentum. Ihre These läuft darauf hinaus, dass die Menschen des
postnationalistischen Zeitalters allesamt aus der Heimat und aus dem vermeintlichen
Paradies homogener Räume Vertriebene sind. Wir sind, gerade unter dem Aspekt
einer „Ethik der Psychoanalyse“, Fremde „in uns selbst“.
Der hohe existenzielle Preis, der für solche innere wie äußere Fremdheit zu entrich-
ten ist, kann nicht hoch genug veranschlagt werden. Es ist der enorme symbolische
Morgenstern, Flucht, S. 35 : „Der rührende deutsche Jude, der Philosoph Hermann Cohen, als man ihn
fragte, warum er die Zionisten so verachte, sagte : ,Die Lumpen wollen glücklich sein !‘“
Roth, Juden auf Wanderschaft, S. 299.
Julia Kristeva, Fremde sind wir uns selbst, aus dem Frz. von Xenia Rajewsky, Frankfurt am Main 1988,
S. 208ff.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519