Page - 398 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Wolfgang Müller-Funk
Aufwand einer virtuellen Ersatzheimat – das lässt sich auch im Werk anderer zentral-
europäischer Autoren mit jüdischem Hintergrund nachweisen, etwa bei Danilo Kiš
oder bei György Konrad. Ohne die paradoxe unklassisch kosmopolitische Utopie
einer Nichtheimat als Heimat, einer Heimat nach der Heimat, in der es nicht mehr
um Herkunft, sondern eher um Hinkunft geht, ist der Verlust nicht zu kompensieren.
Ein Rest von Messianismus, der Roth, einem Antipoden Benjamins, eher fremd war,
schwingt darin mit, zuweilen hat der Roth’sche Kaiser – nicht wegen seiner persön-
lichen Verdienste, wohl aber aufgrund seiner majestätischen Rolle – die Statur eines
jüdischen Gottvaters, zumindest eines gottgesandten Regenten.
Es wäre zu einfach, Roths Position wegen ihrer zweifelsohne vorhandenen nostal-
gischen und assimilatorischen Tendenzen zu verwerfen. Im Zeitalter der „Hybridität“
gewinnt die Erfahrung der Diaspora, die mit ihr nicht identisch ist (weil sie ein be-
stimmtes kulturelles, ja religiöses Muster einer Erfahrung der Verlassenheit und Hei-
matlosigkeit umschließt) zusehends an Bedeutung, nicht zuletzt als Gegengewicht
zu der Versuchung, zu alten Identitätspolitiken zurückzukehren. Paradoxerweise hat
Roth diese spezifisch jüdische Erfahrung in eine altösterreichische Heimatlosigkeit
überführt, was noch einmal die symbolische Einbindung relevanter jüdischer Schich-
ten in das späte Habsburgische Imperium vor Augen führt. Stets war es eine Assimila-
tion an Fremdes, denn die Assimilation an das Eigene, das verlorene Reich, in der die
Juden die Diaspora hätten leben können, wäre eine an eine zweite verlorene Heimat.
In diesem imaginären dritten Raum trifft der Ostjude auf den Altösterreicher Joseph
Roth. Ganz offenkundig ist Morgenstern diese Pointe entgangen.
Aber da liegt wiederum die Differenz zu den heutigen dritten Räumen : Die indi-
schen oder arabischen Intellektuellen in den kapitalistischen Zentren unserer Tage
trauern nicht um Königin Victoria. Und schon gar nicht um Kaiser Franz Joseph.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519