Page - 412 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
Image of the Page - 412 -
Text of the Page - 412 -
1 Klaus Hödl
tigkeit besitzen. Solche Aktivitäten können lediglich beschrieben, nicht aber erzählt
und damit auch nicht zu einem historischen Narrativ zusammengefasst werden.
Um aus der Deskription punktueller Aktivitäten eine Erzählung zu gestalten, ist
es notwendig, auf eine größere Reihe von Handlungen zurückgreifen und sie mitei-
nander verbinden zu können. Dies ist beispielsweise dann gegeben, wenn Praktiken
wiederholt werden. Im konkreten Fall müssten über einen bestimmten Zeitraum hin-
weg die alljährlichen Kostümfeste des Vereins analysiert werden. Auf der Grundlage
der daraus resultierenden Ergebnisse könnte dann eine Tendenz erkennbar sein, die
die Betonung der religiösen Differenz zwischen Juden und Nichtjuden, wie sie bei der
Veranstaltung im Jahre 1899 vorgekommen ist, nicht als ein einmaliges Vorkomm-
nis ausweist, sondern als einen Aspekt einer Entwicklung interpretiert, die zu einer
wachsenden Kluft zwischen Juden und Nichtjuden geführt hat. Eine solche Deutung
ließe sich mit dem zeitgenössischen Kontext in Übereinstimmung bringen, der von
einer zunehmenden Entfremdung zwischen Juden und Nichtjuden geprägt war, die
letztlich zur jüdischen Renaissance führte.
Es wäre aber auch möglich, dass die erforschten Praktiken keine Tendenz erken-
nen lassen. Was an ihnen genau abgelesen werden kann, ist an dieser Stelle lediglich
zweitrangig. Wichtiger ist, sich darüber im Klaren zu sein, dass eine historiografi-
sche Fokussierung auf punktuelle Handlungssequenzen keine Narrative hervorbringt
und dass dafür ein Zusammenhang zwischen ihnen hergestellt werden muss. Wollte
man mit einem performativen Ansatz eine kohärente historische Erzählung verfassen,
dann müsste er dafür ausgebaut werden. Seine historiografische Importanz besteht
stattdessen im Aufzeigen von Brüchen und Diskontinuitäten. Er stellt eine problem-
orientierte Herangehensweise dar, die das Kontingente hervorhebt, dessen Deutung
mit vorliegenden Narrativen abstimmt und dabei entstehende Dissonanzen zum Vor-
schein bringt.
„Tanz in Bildern“
Im Folgenden soll unter dem Gesichtspunkt der Akkulturationsproblematik ein
weiteres Faschingsfest, das allerdings nicht von einem interkonfessionellen, sondern
einem jüdischen Verein veranstaltet wurde, näher beschrieben werden. Im Zentrum
der Ausführungen stehen demnach keine jüdisch-nichtjüdischen Interaktionen, son-
dern Deutungen jüdischer Handlungsprozesse. Der performative Ansatz charakte-
risiert weiterhin den methodischen Zugang, und auch das Konzept des kulturellen
Michael Brenner, Jüdische Kultur in der Weimarer Republik, München 2000.
back to the
book Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus"
Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519