Page - 433 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
Image of the Page - 433 -
Text of the Page - 433 -
„Schund“, „Jargon“ und schöner Schein
Die Verwendung des Begriffes „Schund“ mit seinen negativen Konnotationen für
einen Teil der jiddischen Dramatik hatte rezeptionsgeschichtlich weite Folgen. Als
„Schund“ galt bald alle jiddische Dramatik (besonders in der deutschen und öster-
reichischen Rezeption), der Begriff verhinderte eine unbelastete und analytische Aus-
einandersetzung mit ihr. Dazu kam, dass diese „Schund“-Stücke in Jiddisch (das wie-
derum fälschlich als „Jargon“ bezeichnet wurde) verfasst waren und nur in wenigen
Fällen (oft sehr schlechte) Übersetzungen vorlagen.
In den letzten Jahrzehnten änderte sich die Einstellung gegenüber der populären
Kultur grundlegend, was mit sich brachte, dass auch auf die sogenannten jiddi-
schen „Shund“-Stücke ein wissenschaftlich-analytischer Blick möglich wurde. In der
neueren Forschung berücksichtigt wurde weiters die Frage, an welches Publikum sich
diese Theatertexte richteten und in welchem soziologischen Umfeld sie inszeniert
wurden bzw. zu sehen waren.
Die Wiener jiddischen Bühnen und Ensembles, an und in denen etwa um hundert
SchauspielerInnen und Theaterleute tätig waren, waren zuallererst ein Theater einer
Minderheit, der jiddischen Minderheit innerhalb der deutschsprachigen jüdischen
Gemeinde Wiens. Die SchauspielerInnen stammten aus Osteuropa, und ihr Publi-
kum setzte sich – soweit dies nachvollziehbar ist – zum Großteil aus Immigranten
oder Durchwanderern aus denselben Ländern zusammen.
Das jiddische Theater war daher immer ein Theater, in dem die soziale Funktion
sehr wichtig war – wichtiger als die literarische Qualität der Texte oder eine aus-
gefeilte Ästhetik der Inszenierung. Das Theater war Treffpunkt für die „landsleyt“,
in dem sie in ihrer Sprache sprechen konnten und eine Anlaufstelle für Probleme
aller Art. Dem entspricht auch das Verhalten des Publikums in ihrem Theater, das
nach einigen Quellen bei Weitem ungezwungener war als in einem „deutschen“
Theater.
Der Bedarf nach neuen Stücken war enorm, auch in der verhältnismäßig kleinen
jiddischen Theaterszene Wiens, in deren Glanzzeiten drei bis vier jiddische Ensembles
parallel spielten und meist pro Woche ein neues Stück boten. Einen großen Teil des
Repertoires bildeten (die Freie jüdische Volksbühne und die Jüdischen Künstlerspiele
ausgenommen) die leichten Melodramen und Operetten, die in aller Welt gezeigt
und ohne sonderliche Kümmernis um Urheberrechte überall nachgespielt wurden.
Analysen sogenannter „Schund“-Stücke zeigen, dass – zumindest manche dieser Texte
Siehe etwa Hans-Otto Hügel (Hg.), Handbuch Populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussionen,
Stuttgart, Weimar 2004.
Vgl. Sandrow, Vagabond Stars, S. 93.
back to the
book Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus"
Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519