Page - 459 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Imago und Vergessen
Die Literatur ab den 1890er-Jahren zum Wiener Musik- und Theaterschaffen
zeichnet sich dadurch aus, dass immer zwei Linien festgehalten werden, die das spe-
zifisch Wienerische dieser Produktionen charakterisieren. Gegenwärtig würden diese
als hochkulturelle und populärkulturelle Ausprägungen oder Kategorien beschrie-
ben werden. Im Diskurs um 1900–1938 scheinen die Begriffe des „Volkstümlichen“
und des „höchsten Kunstanspruchs auf“, die aber nicht getrennt zu betrachten sind,
sondern eine Synthese eingingen. So zeigt sich diese spezifische Mischung in der
Burgtheatergeschichtsschreibung, wenn, wie bereits gesagt, seine Doppelstellung als
Bildungs- und Unterhaltungstheater hervorgehoben wird, die es gerade dadurch
erreichte, indem es „einen vielleicht einzigartigen Grad an Volkstümlichkeit ge-
wann“ . Es sei dies, nach Helene Richter, die maßgebliche Kategorie für die er-
folgreiche Installation des Hoftheaters als Nationaltheater : „Im erlesenen Kunstge-
nuß, der zugleich die ergötzlichste Unterhaltung bildete, schwelgte der Alt-Wiener
in seinem heiteren Behagen am Anmutigen, in dem zum nicht geringen Teil sein
sprichwörtlicher Sybaritismus bestand. Nur verständnislose Außenstehende können
glauben, ihn mit der Seligkeit bei Backhändel [sic !] und Heurigem erschöpft zu
haben.“
Das Genussvolle, Genießerische, Schlemmerische, das Kulinarische beschreibt sie
als wienerischen Zug, diese mentalitätshistorische Kategorie hält Stefan Zweig eben-
falls fest und differenziert : „Wien war, man weiß es, eine genießerische Stadt, aber
was bedeutet Kultur anderes, als der groben Materie des Lebens ihr Feinstes, ihr
Zartestes, ihr Subtilstes durch Kunst und Liebe zu entschmeicheln ? Feinschmecke-
risch im kulinarischen Sinne, sehr um einen guten Wein, ein herbes frisches Bier,
üppige Mehlspeisen und Torten bekümmert, war man in dieser Stadt anspruchsvoll
auch in subtileren Genüssen. Musik machen, tanzen, Theater spielen, konversieren,
sich geschmackvoll und gefällig benehmen wurde hier gepflegt als eine besondere
Kunst.“
Diese findet sich auch in Schöpfungen wie dem Powidltatschkerlschlager von Her-
mann Leopoldi, dem Besingen von Zwetschkenknödel, Schinkenfleckerln, Wiener
Schnitzeln, dem Wein u.v.m.
Auch in einem ideologisch ganz anderen Umfeld, dem linker, jüdischer Intellek-
tueller, spielte dieses „Genießerische“ bei der Analyse Wiener Typen und Atmosphäre
eine bedeutende Rolle. Theodor Kramer, der „Verhinderte österreichische National-
Helene Richter, Unser Burgtheater, S. 18.
Ebd.
Ebd., S. 18f.
Zweig, Die Welt von gestern, S. 29.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519