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weiß nicht, ob er wegen seiner angeblichen mexikanischen Deszendenz verdam-
mens- oder bewundernswürdig ist. So entschuldigt Vautrin die Verschleierung
seines Namens gegenüber Inès: „Mais, mademoiselle, il ignore encore si le nom
de son père est celui d’un coupable de haute trahison ou celui d’un libérateur de
l’Amérique.“395 (Aber, mein Fräulein, er weiß noch immer nicht, ob der Name
seines Vaters der eines Hochverräters oder eines Befreiers Amerikas ist.)
Dazu kam noch ein spezielles Motiv für das Verbot des Stückes. 1834 war
erstmals ein Robert-Macaire-Stück aufgeführt worden; in dieser bald sehr belieb-
ten freien Dramenform brillierte die Hauptfigur mit zynischen Vergleichen zwi-
schen ehrbarer Gesellschaft und Kriminellen sowie mit improvisierten Scherzen
aller Art, bevorzugt auch über die Religion. Als der Robert Macaire verkörpern-
de Schauspieler Frédérick-Lemaître eines Abends mit einem deutlich als birnen-
förmige Perücke à la Louis-Philippe erkennbaren Kopfschmuck auftrat, wurde
das Stück von der Polizei verboten. Gleiches wiederholte sich nun mit Balzacs
Vautrin. Derselbe Schauspieler trat wieder mit birnenförmiger Perücke auf.
Zudem hatte der Leiter des Theaters Porte-Saint-Martin werbewirksam, aber
letztlich unvorsichtig vor der Premiere in Paris das Gerücht von einem bevor-
stehenden politischen Skandal ausstreuen lassen. Als in der Uraufführung
Frédérick-Lemaître als Vautrin tatsächlich die berüchtigte birnenförmige Perü-
cke trug, die das Publikum aus zahlreichen Karikaturen nur allzu gut kannte
(vgl. Abbildung 10), schritt der König ein und verbot alle weiteren Aufführun-
gen. Als offizieller Grund wurde freilich die Immoralität des Stückes vorgescho-
ben. Balzac konnte den Verlust zweifellos verschmerzen, aber das Theater muss-
te bald danach, nämlich im März 1840, geschlossen werden.396 Vermutlich waren
die Vorgänge an den französischen Theatern auch bis nach Österreich durchge-
drungen. Fest steht, dass die österreichische Monarchie jede Kritik an regieren-
den Staatsoberhäuptern hintanzuhalten versuchte.
6 9 4 Bayard und Vanderburch
Liest man die zweiaktige Comédie-vaudeville Le gamin de Paris von Bayard und
Vanderburch397 mit der Zensorenbrille durch, so fehlt auf den ersten Blick jedes
Motiv für ein Verbot des Stücks, das im Dezember 1836 mit dem Decisum ,dam-
395 Ebd., S. 107.
396 Vgl. dazu L.[ouis]-Henry Lecomte: Un comédien au XIXe siècle. Frédérick-Lemaître. Étude
biographique et critique d’après des documents inédits. Deuxième partie 1840–1876. Paris,
chez l’auteur 1888, S. 4–9.
397 Le Gamin de Paris, comédie-vaudeville en deux actes, par MM. Bayard et E. Vanderburch,
publié par J. Louis. Dessau: Imprimerie de la Cour 1836.
6.9. Französische Theaterstücke aus dem Zeitraum 1830–1848 385
Die literarische Zensur in Österreich von 1751 bis 1848
- Title
- Die literarische Zensur in Österreich von 1751 bis 1848
- Author
- Norbert Bachleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20502-9
- Size
- 15.8 x 24.0 cm
- Pages
- 532
- Keywords
- Censorship, Austria, Habsburg monarchy, 18th and 19th century, Zensur, Österreich, Habsburgermonarchie, Geschichte, 18. und 19. Jahrhundert, Literatur
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- VORBEMERKUNGEN 11
- 1. EINLEITUNG 15
- 2. IM DIENST DER AUFKLÄRUNG: DIE ZENSUR ZWISCHEN 1751 UND 1791 41
- 2.1. Die Vorgeschichte: Zensur in der Frühen Neuzeit 41
- 2.2. Die maria-theresianische Zensurkommission 49
- 2.3. Die josephinisch-leopoldinische Epoche 58
- 2.4. Kommentierte Statistik der Verbotstätigkeit 1754–1791 73
- 2.4.1. Verbote 1754–1791 73
- 2.4.2. Verbote 1754–1780, gegliedert nach Sprachen 78
- 2.4.3. Meistverbotene Autoren 1754–1780 79
- 2.4.4. Verbote 1783–1791, gegliedert nach Sprachen 82
- 2.4.5. Meistverbotene Autoren 1783–1791 84
- 2.4.6. Verbote 1754–1791, gegliedert nach Disziplinen bzw. Gattungen 85
- 2.4.7. Meistverbotene Verlage 1754–1791 87
- 2.4.8. Häufigste Verlagsorte 1754–1791 91
- 3. DIE ZENSUR ALS INSTRUMENT DER REPRESSION: DIE ÄRA NAPOLEONS UND DER VORMÄRZ (1792–1848) 93
- 3.1. Zwischen Französischer Revolution und Studentenunruhen: Die Zensur von 1792 bis 1820 94
- 3.1.1. Die Etablierung des polizeilichen Zensursystems 94
- 3.1.2. Die Zensoren 96
- 3.1.3. Die Aktion der Rezensurierung 1803–1805 101
- 3.1.4. Die Jahre der napoleonischen Besatzung und die Zensurvorschrift von 1810 105
- 3.1.5. Die Zensurgutachten: Beispiele aus den Jahren 1810/11 108
- 3.1.6. Die Bücherrevisionsämter 114
- 3.1.7. Die Staatskanzlei 121
- 3.2. Die Zensur im Vormärz (1821–1848) 124
- 3.3. Kommentierte Statistik der Verbotstätigkeit 1792–1848 146
- 3.3.1. Verbote und Zulassungen 1792–1820 148
- 3.3.2. Verbote 1792–1820, gegliedert nach Sprachen 151
- 3.3.3. Meistverbotene Autoren 1792–1820 153
- 3.3.4. Verbote und Zulassungen 1821–1848 157
- 3.3.5. Verbote 1821–1848, gegliedert nach Sprachen 163
- 3.3.6. Meistverbotene Autoren 1821–1848 166
- 3.3.7. Verbote 1792–1848, gegliedert nach Disziplinen bzw. Gattungen 169
- 3.3.8. Meistverbotene Verlage 1792–1848 171
- 3.3.9. Meistverbotene französische Verlage 1792–1848 186
- 3.3.10. Häufigste Verlagsorte 1792–1848 188
- 3.1. Zwischen Französischer Revolution und Studentenunruhen: Die Zensur von 1792 bis 1820 94
- 4. EIN BLICK IN DIE LÄNDER 193
- 4.1. Petr Píša/Michael Wögerbauer: Das Königreich Böhmen (1750–1848) 193
- 4.1.1. Die böhmischen Zensurkommissionen und ihre Zusammensetzung 193
- 4.1.2. Das Nebeneinander der Zensurinstanzen 196
- 4.1.3. Die gescheiterte Zentralisierung (1781–1791) 200
- 4.1.4. Die langsame Professionalisierung und Zentralisierung des Zensurapparats unter Franz II./I 203
- 4.1.5. Prag und Wien im Spannungsfeld der Kompetenzstreitigkeiten 206
- 4.1.6. Die Struktur der Zensur in Böhmen seit 1810 208
- 4.1.7. Unter der Lupe – Analyse der Gutachten 211
- 4.1.8. Probleme der Zensur in den Provinzen – der Fall Böhmen 214
- 4.2. Daniel Syrovy: Die italienischsprachigen Gebiete der Habsburgermonarchie (1768–1848) 216
- 4.1. Petr Píša/Michael Wögerbauer: Das Königreich Böhmen (1750–1848) 193
- 5. DIE THEATERZENSUR 239
- 6. FALLSTUDIEN 259
- 6.1. Periodika 259
- 6.2. Chroniques scandaleuses 269
- 6.3. Die Motive ,Teufel‘ und ,Selbstmord‘ in der verbotenen Literatur 281
- 6.4. Die deutsche Klassik 296
- 6.5. Die Romantiker 321
- 6.6. Historische Romane am Beispiel von Walter Scott 336
- 6.7. Französische und anglo-amerikanische Romanliteratur der 1840er Jahre 347
- 6.8. Geschichtsepik 359
- 6.9. Französische Theaterstücke aus dem Zeitraum 1830–1848 374
- 6.10. Englische Theaterstücke 389
- 7. AUSBLICK 407
- ANHANG 411
- 1. Zensurprotokolle 411
- 2. Verordnungen, Zensur-Richtlinien, Berichte 416
- Mandat betreffend „Sectischer Bücher-Verbott“, ausgegeben von Erzherzog Ferdinand I. von Österreich am 12.3.1523 416
- „Kurze Nachricht von Einrichtung der hiesigen Hofbüchercommission“ vom Februar 1762 418
- Pro Memoria des Professoris Sonnenfels Die Einrichtung der Theatral Censur bet[treffend] [Resolution von Joseph II., vom 15. März 1770] 419
- Gerard van Swieten: Quelques remarques sur la censure des livres (14. Februar 1772) 421
- Zensurverordnung Josephs II., ausgegeben am 1. Juni 1781 427
- Hofdekret vom 20., kundgemacht in Mähren den 28., in Innerösterreich den 30. Jäner, in Gallizien den 3. Februar 1790 431
- Denkschrift Franz Karl Hägelins, gedacht als Leitfaden für die Theaterzensur in Ungarn (1795) 438
- Zensur-Vorschrift vom 12. September 1803. Anleitung für Zensoren nach den bestehenden Verordnungen 462
- Instruktion für die Theaterkommissäre in den Vorstädten von Wien, 5. Dezember 1803 470
- Vorschrift für die Leitung des Censurwesens und für das Benehmen der Censoren, in Folge a. h. Entschließung vom 14. September 1810 erlaßen 474
- ABBILDUNGSVERZEICHNIS 479
- BIBLIOGRAPHIE 480
- REGISTER 510