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1.4.2 »Nationalsozialismus«
»[Die NS-Herrschaft] war keine bloße Diktatur
von oben nach unten, sondern eine soziale Praxis,
an der die deutsche Gesellschaft in
vielfältiger Weise
beteiligt war.«116
Die Abkehr von besagtem Merkmalskatalog kennzeichnet auch die neuere Na-
tionalsozialismusforschung. Diese fokussiert auf anthropologisch determinierte
Ansätze117, welche die Wandelbarkeit und Dynamik des deutsch-österreichi-
schen Faschismus nachvollziehbar machen und damit zur Differenzierung und
Weiterentwicklung frĂĽherer Modelle beitragen, die den Nationalsozialismus vor
allem als »Mobilisierungs- und Manipulationsprojekt«118 der politischen Eliten
zu beschreiben suchten. Die Ă„nderung des Blickwinkels widerspiegelt dabei die
politischen Entwicklungen seit 1945 : Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs
war zunächst vor allem der Eroberungskrieg als Hauptmerkmal des NS-Regi-
mes in den Blick genommen worden ; in den Interpretationen der 1960er und
1970er Jahre hatten die Zerschlagung von Demokratie und Sozialismus sowie
der Widerstand gegen das Regime im Vordergrund gestanden.119 Seit den
1980er Jahren differenzierte sich das Nachdenken ĂĽber den Nationalsozialis-
mus, im wissenschaftlichen wie auch im gesellschaftlichen Diskurs.120 In den
Geschichtswissenschaften gilt der Holocaust zunehmend als präzedenzloses,
zentrales Kernereignis des Nationalsozialismus :
»Die ›Chiffre Auschwitz‹ bezeichnet am Beginn des 21. Jahrhunderts einen ›globalen
Referenzpunkt‹, der nicht mehr allein als Kernereignis des Nationalsozialismus inter-
pretiert wird, sondern als ›Signatur eines ganzen Zeitalters‹«.121
116 Bajohr, Zustimmungsdiktatur, S. 121.
117 So z. B. die »Alltagsgeschichte« : Diese untersucht die konkreten historischen Lebenssitu-
ationen der Menschen und zielt dabei auf eine Rekonstruktion der Wahrnehmungs- und
Deutungsweisen der Menschen ab. Vgl. Jordan, Theorien und Methoden, S. 156. Auch die
»Mikrohistorie« rückt das Individuum stärker in ihren Blick : Sie will über die Betrachtung
des Kleinen Aufschlüsse über die Gestalt des Großen gewinnen. Vgl. ebd., S. 155.
118 Kritisch dazu Bauer, Mobilisierung, S. 288.
119 Vgl. Uhl, Zivilisationsbruch und Gedächtniskultur, S. 8 f.
120 Vgl. Bauer, Mobilisierung, S. 294.
121 Uhl, Zivilisationsbruch und Gedächtniskultur, S. 8. Uhl beruft sich in ihrer Ausdrucksweise
auf : Habermas, Geschichtsbewußtsein, S. 161–179.
36 | Einleitung
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Title
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Subtitle
- Eine historiografische Untersuchung
- Author
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 328
- Keywords
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂĽmee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319