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Pathologen«451 bereits seit längerem tot gewesen sein müssen, zum Teil bereits
sehr lange Zeit, bevor die Mure sie verschüttet habe. Aber : »Nana, man sollte
nichts derart Unüberlegtes sagen !«452
Der Prozess des sprachlichen Ăśberlagerns und ĂśberschĂĽttens, in dem ein
Satz vom nächsten gejagt und verdrängt wird, widerspiegelt – soviel sei der In-
terpretation vorweggenommenÂ
– das große Thema des Romans : Verdrängung.453
Exemplarisch für ein Land, das über Jahre hinweg die präzedenzlosen NS-Men-
schenvernichtungsprogramme mitgetragen und sich hernach selbst zum Opfer
erklärt hat, wird der Ort des Schauspiels im Finale des Buchs von der Vergan-
genheit eingeholt und selbst vernichtet.
3.2.3 Referenzen und Intertexte
»Jelinek referiert nicht auf einen Hypotext oder
mehrere, die miteinander kompatibel wären,
sondern auf viele disparate Hypotexte …«454
Das Opus Magnum Jelineks, einer Meisterin des intertextuellen Schreibens,
weist erwartungsgemäß eine reiche Fülle an Andeutungen und Bezugnahmen
auf andere Texte auf. Neben »vagen literarischen Verwandschaften« zu Friede-
rike Mayröcker oder Ingeborg Bachmann können auch konkrete Hinweise und
Bezugnahmen auf Autoren der so genannten »Antifaschistische[n] Literatur
der Nachkriegszeit«455 ausgemacht werden : beispielsweise auf Thomas Bern-
hard (»Die Billigesser nehmen eine lange Wanderung auf sich, um ihre Genuß-
scheine vorzeigen zu können…«456), Ilse Aichinger (»Jetzt werden Sie Zeuge,
wie unten, beim Kai, am Donaukanal, der Transporter mit Ilses Großmutter …
um die Kurve biegt und verschwindet…«457) oder Gerhard Fritsch (»… unseren
Opfern wird so eine Art Aussehen verliehen, dazu ein Faschingsorden, breites
Lachen dröhnt durch die Täler, wenn die Gilde über Politiker Witze reißt und
sich damit selbst mitsamt diesem Unkraut zusammentritt.«458). Auch Fritsch
kritisierte die verlogene Sprachverwendung, mit der Ă–sterreichs Opferthese in
der Nachkriegszeit etabliert wurde :
451 KDT, S. 666.
452 KDT, S. 666.
453 Vgl. Mayer/Koberg, Ein Porträt, S. 202.
454 Pontzen, Pietätlose Rezeption, S. 53 f.
455 Scheidl, Ein Land auf dem rechten Weg, S. 153.
456 KDT, S. 218.
457 KDT, S. 397.
458 KDT, S. 469.
186 | Lektüre- und Deutungsvorschläge
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Title
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Subtitle
- Eine historiografische Untersuchung
- Author
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 328
- Keywords
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂĽmee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319