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Die »Vielen«, die einmal wegschauen und einmal mitmachen, die »Vielen«, die
von sich behaupten, unpolitisch zu sein, und dabei verkennen, welche Reichweite
ihr alltÀgliches Handeln hat und welche Konsequenzen dieses in Summe nach
sich zu ziehen vermag â sie sind die Protagonisten der Jelinekâschen Prosa- und
Dramentexte. Insofern leistet die Autorin seit Jahren einen wichtigen Beitrag zum
differenzierten VerstÀndnis historischer Ereignisse und deren Verankerung im in-
dividuellen wie auch kollektiven GedÀchtnis. Nur eines gesteht die Autorin mit
dem »bösen Blick«162 ihren FigurenÂ
â im Gegensatz zu neueren wissenschaftlichen
Publikationen (etwa Michael Manns »Fascists«) â nicht zu : Entwicklungs- und
VerĂ€nderungspotential. Die Jelinekâschen Hauptfiguren rennen stets ins vorher-
sehbare Verderben oder verharren, allen Emanzipationsbestrebungen zum Trotz,
in ihren von AbhÀngigkeiten geprÀgten Schicksalen. Warum das so ist und was die
Autorin mit ihrem nicht-psychologisierenden, unempathischen FigurenverstÀnd-
nis erreichen will, wird im Rahmen der poetologischen EinfĂŒhrung eingehend
erlÀutert und in der Empirie an praktischen Beispielen demonstriert werden.
Dass die Systematik der »schweigenden Mehrheit« unter gewissen Voraus-
setzungen ĂŒber Jahre hinweg und gröĂtmöglichen menschlichen EinbuĂen zum
Trotz funktioniert, hat das nationalsozialistische Regime auf denkbar tragischste
Weise gezeigt. Nur auf Basis der stillen Akzeptanz der »Vielen« konnte der
deutsch-österreichische Faschismus funktionieren, bis er unter der Ăbermacht
seiner Ă€uĂeren Feinde im Mai 1945 schlieĂlich zusammenbrach.163
1.4.3 »Mythos« nach Roland Barthes
»In der Tat verblĂŒfft es immer wieder, wie prĂ€zise
Jelinek sich in beinahe jedem ihrer Werke
sowohl auf die Thesen als auch auf einzelne
Formulierungen von Roland Barthes bezieht und
welche Dimensionen fĂŒr das poetische Verfahren
sie dem Text von Barthes abzugewinnen
vermocht hat.«164
In Hinblick auf den sensiblen Mythosbegriff muss zunÀchst festgestellt werden,
dass keine einheitliche Definition möglich ist, denn »endgĂŒltig faĂbar, eindeu-
tig interpretierbar, exakt definierbar ist der Mythos nicht«165. Nur AnnÀherun-
162 Burger, Der böse Blick der Elfriede Jelinek, S. 17.
163 Vgl. Bajohr, Meister der Zerstörung, S. 687.
164 Janz, Elfriede Jelinek, S. 9 f.
165 Szczepaniak, Dekonstruktion des Mythos, S. 13. 41
Diskussion der zentralen Begriffeâ |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Title
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Subtitle
- Eine historiografische Untersuchung
- Author
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 328
- Keywords
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, IntertextualitÀt
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. LektĂŒre- und DeutungsvorschlĂ€ge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten SekundÀrliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die ErzÀhlinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die groĂe Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂŒmee 279
- 5. Epilog â Wir warenâs nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319