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127Kirchenstreit
im ländlichen Hinterland
Die große Dorfkirche stand die ganze Zeit, nicht nur zu Weihnachten,
fast leer: Die Menschen gingen nicht in die Kirche, sie meldeten sich sogar
konfessionslos an. Der junge Priester schickte dem Triestiner Bischof, dem
deutschsprachigen Franz Xaver Nagl, in seinen ersten zwei Dienstmonaten
mehrere Briefe, in denen er immer wieder beteuerte, wie glücklich und froh
er die Herausforderung wahrnehme, in einem Dorf wie Ricmanje seelsor-
gerische Aufgaben zu erfüllen: »Ich bin in Ricmanje vollkommen zufrie-
den und danke Gott und Ihnen, dass Sie mich hierher schickten.«170 Die
Zustände, die er aber in seinen Briefen schilderte – vom Kaplanhaus, das
auch nach der Meinung des antikirchlich eingestellten Dorfvorstehers wie
»ein Schweinestall« aussah171 bis zu den feindseligen Bewohnern und Kin-
dern, die gegen den neuen Priester Steine warfen und sein Leben erschwer-
ten –, unterschieden sich kaum von den Beschwerden eines anderen, frühe-
ren Kaplans, Jožef Krančič, der zuvor wegen der Gewaltakte sogar aus dem
Dorf fliehen musste. Auch ein anderer Vorgänger, ein gewisser Dr. Anton
Požar, konnte sich nicht lange in Ricmanje halten, aber im Gegensatz zu Don
Krančič und Don Ukmar war er nicht vom Dorf, sondern von der kirchli-
chen Obrigkeit verdrängt worden. Unter ihm begann die Streitigkeit mit dem
Triestiner Bistum, die fast zehn Jahre lang andauerte und als Paradebeispiel
eines national motivierten, innerkatholischen Konfliktes galt. Der Fall kam
und kommt immer wieder als Beispiel der nationalen Selbstverortung slowe-
nischsprachiger Katholiken in der späteren Historiographie vor.172
Im Folgenden geht es darum, diesen Konflikt – der bis jetzt nur spora-
disch erforscht und dargestellt wurde
– von der mikrogeschichtlichen Ebene
her zu rekonstruieren.173 Dabei stellt sich die Frage, ob und wie der Kampf
eines slowenischsprachigen Dorfes mit seinen slowenischsprachigen Pries-
tern, Pfarrern und dem »slowenisch« markierten Triestiner Bistum als »Nati-
onalitätenkonflikt« gelten konnte. Im Mittelpunkt der Analyse stehen die
unterschiedlichen Konfliktebenen, die einer mehrdimensionalen Erklärung
bedürfen. Die nationalpolitischen Debatten um die Rolle der lokalen Kirche
stellen zwar den diskursiven Hintergrund dar. Hatte aber der Konflikt in Ric-
170 Brief von Don Ukmar an Bischof Nagl (25. November 1906), in: Ebd.
171 Don Ukmar zitiert in seinem Brief den Dorfvorsteher Ivan Berdon; vgl. Don
Ukmars Brief an Bischof Nagl (25. November 1906), in: ADT, GP, 1906/82.
172 Vgl. u. a. Valdevit, Chiesa e lotte nazionali, S. 197ff.; Tomaž Simčič, Jakob Ukmar
(1878–1971). Sto let slovenstva in krščanstva v Trstu [Jakob Ukmar (1878–1971).
Hundert Jahre Slowenentum und Christentum in Triest], Gorica 1986, S.
50ff.; Alojz
Rebula, Jakob Ukmar, Pordenone 1992, S.
10ff.; Angel Kosmač, Ricmanje
– včeraj
in danes [Ricmanje
– gestern und heute], Trst [Triest] 1997; Gottsmann, Rom und
die nationalen Katholizismen, S. 158ff.
173 Teilergebnisse meiner Forschung über den Kirchenstreit wurden schon veröffent-
licht, vgl. Péter Techet, Gewaltmomente unter ländlichen Katholiken in der späten
Habsburgermonarchie. Kirchenstreit in Ricmanje bei Triest, in: Bouwers (Hg.),
Glaubenskämpfe, S. 117–138.
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Umkämpfte Kirche
Innerkatholische Konflikte im österreichischungarischen Küstenland 1890–1914
- Title
- Umkämpfte Kirche
- Subtitle
- Innerkatholische Konflikte im österreichischungarischen Küstenland 1890–1914
- Author
- Péter Techet
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35696-4
- Size
- 15.9 x 23.5 cm
- Pages
- 310
- Keywords
- Kirche, Religion, Österreich, Kaiserzeit
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Bemerkung zu den Personen- und Ortsnamen 11
- Danksagung 13
- Vorwort 15
- 1. Einführung: Konzept, Verortung, Methode 19
- 2. Imperium, Nation und Katholizismus in der Habsburgermonarchie 59
- 3. Österreichisches Küstenland 85
- 3.1 Konflikte um die Nationalisierung des kirchlichen Raumes in Istrien 88
- 3.2 Kirchenstreit im ländlichen Hinterland der Hafenstadt Triest 126
- 3.2.1 Ricmanje: Slowenischsprachiges Dorf an der sprachkulturellen Grenze zu Triest 126
- 3.2.2 Konfliktgeschichte: Vom Kampf um die Pfarrei bis zum Kampf gegen die Kirche 130
- 3.2.3 Konfliktanalyse: Situative Identifizierungen auf mehreren Konfliktebenen 161
- 3.2.4 Historischer Kontext: Lokaler Widerstand gegen kirchliche Vereinheitlichung 165
- 3.3 Fazit: Konkurrierende und proaktive Selbstbehauptung ländlicher Katholiken 168
- 4. Ungarisch-Kroatisches Küstenland 171
- 4.1 Konflikte um und gegen die altslawische Liturgiesprache im Bistum Senj 174
- 4.1.1 Einführung der altslawischen Liturgiesprache in der ehemaligen Militärgrenze 174
- 4.1.2 Konfliktgeschichte: Lokaler Widerstand gegen die altslawische Liturgiesprache 182
- 4.1.3 Konfliktanalyse: Nationale Indifferenz oder antiserbischer Hass? 195
- 4.1.4 Historischer Kontext: Altslawische Sprache als nationales Thema 203
- 4.2 Kirchenstreit im ländlichen Hinterland der Hafenstadt Fiume / Rijeka 207
- 4.3 Fazit: Reaktiver Selbstschutz ländlicher Katholiken 236
- 4.1 Konflikte um und gegen die altslawische Liturgiesprache im Bistum Senj 174
- 5. Konfliktdynamiken: Nationale Nonkonformität und religiöse Peripherie 241
- Ausblick 257
- Quellen- und Literaturverzeichnis 263
- Archivmaterial 263
- Bibliotheken 265
- Zeitungen 265
- Digitale Sammlungen 267
- Zeitgenössische Literatur 267
- Sekundärliteratur 268
- Ortsnamen in den landesüblichen Sprachen 289
- Personen 295
- Verzeichnis von Abbildungen, Karten und Tabellen 297
- Abkürzungen 299
- Register 301
- 1. Ortsregister 301
- 2. Personenregister 303