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wollen und veröffent
lichte 1929 sein viel diskutiertes Buch Die Schrift lügt nicht.
Er behauptete, nicht nur Charakterzüge, sondern auch Gesichtszüge und Verhal-
tensweisen von Menschen aus ihrer Handschrift ablesen zu können.92 Er verband
seine Handschriftenanalyse mit Aussagen über das vergangene oder zukünftige
Leben des Schreibers (ein derartiges »Gutachten« erstellte er beispielsweise für
Karl Kraus).93 Vortragsreisen führten ihn 1923/24 bis nach Amerika, 1941 wurde
er nach Sibirien deportiert und gilt seitdem als verschollen. Auch der Wiener
Hellseher Herschel »Hermann« Steinschneider konnte als Vorbild für Lothars
Romanhelden gedient haben. Steinschneider, der sich den Künstlernamen Erik
Jan Hanussen zulegte und vorgab, einer alten dänischen Adelsfamilie zu ent-
stammen, schlug sich zunächst als Kunstreiter, Hypnotiseur und Varietékünstler
durch.94 Als Hellseher machte er in der Presse spektakuläre Vorhersagen, wobei
er es verstand, Zufallstreffer gebührend zu unterstreichen – besaß er doch selbst
mehrere Zeitungen und eine eigene Hellsehshow in Berlin. Bereits 1919/1920
produzierte er Filme, in denen er als Hypnotiseur auftrat. Obwohl er Jude war,
unterstützte er in seiner Berliner Wochenschau Hitlers Aufstieg. Hanussen kam
nun mit Nazikreisen in Berührung, finanzierte sie, indem er unter anderem
Göring Geld lieh. Mit Hitler selbst hatte er sich ab 1932 öfter getroffen, was
Goebbels wohl ein Dorn im Auge war. Dieser hatte eine Akte über Hanussen
anlegen lassen und herausgefunden, dass der Hellseher jüdischer Herkunft war.
Im März 1933 wurde Hanussen verhaftet, ein paar Wochen später wurde seine
Leiche mit drei Kugeln im Kopf auf einem Feld gefunden.95
Mit der Machtergreifung Hitlers in Deutschland wurde der politische Gesin-
nungsdruck auch auf die österreichischen Schriftsteller, die auf den deutschen
Markt angewiesen waren, durch wirtschaft
liche Sank tionen des NS-Regimes
zur existenzgefährdenden Bedrohung. Neben den Bücherverbrennungen am
10. Mai 1933,96 von denen auch Werke österreichischer Autoren betroffen waren,
gab es eine Reihe offizieller und inoffizieller Maßnahmen, die, gestützt auf die
92 Vgl. dazu auch Oskar Fischer: Experimente mit Raphael Schermann. Ein Beitrag zu den Prob-
lemen der Graphologie, Telepathie und des Hellsehens. Berlin: Urban & Schwarzenberg 1924.
93 Vgl. Rainer Maria Rilke – Sidonie Nádherný von Borutin. Briefwechsel 1906 – 1926, S. 610. Fried-
rich Pfäfflin (Hg.): Karl Kraus. Briefe an Sidonie Nádherný von Borutin. 1913 – 1936, S. 212 ff.,
244 f.
94 Vgl. Neue Freie Presse, 6. 2. 1923, S. 8; vgl. aber auch ebd., 17. 12. 1929, S. 11 f. und 19. 12. 1929, S. 11.
95 Vgl. u. a.: John S. Craig: Peculiar Liaisons, S. 154 f.; Andreas Dornheim: Röhms Mann fürs Aus-
land, S. 182 f.
96 Vgl. Neue Freie Presse, 26. 4. 1933, S. 3; Wiener Sonn- und Montags- Zeitung, 8. 5. 1933, S. 4.
Gegenseitigkeitskorruption und »unerwünschtes Schrifttum« 69
Open Access © 2016 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Ernst Lothar
Schriftsteller, Kritiker, Theaterschaffender
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ernst Lothar
- Untertitel
- Schriftsteller, Kritiker, Theaterschaffender
- Autor
- Dagmar Heißler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20145-8
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 484
- Schlagwörter
- österreichischer Schriftsteller, unveröffentlichte Werke und Korrespondenz, literarische Einflüsse und Beziehungen, Rezeption, Emigration, Theater
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 9
- 2. Quellenlage 15
- 3. 1890 – 1925: Literarische Nachwuchshoffnung 27
- 4. 1925 – 1935: »Einer jener Kritiker, die auch ein Stück Theaterdirektor sind« 53
- 5. 1935 – 1938: Theater in der Josefstadt – Max Reinhardts »rechte Hand und linker Fuß« 99
- 6. 1938 – 1946: Exil – »Emigrieren ist eine Sache für junge Menschen, die sich nicht erinnern« 135
- 7. 1946 – 1950: Rückkehr – »… und in Lothars Lager war Österreich« 243
- 8. 1950 – 1959: »Von allen meinen Kritikern bin ich der unerbittlichste« 293
- 9. 1959 – 1974: »… und so muss ein Stückchen Torso für ein Stückchen Ganzes gelten« 335
- 10. Schluss 373
- Literaturverzeichnis 385
- Anhang 415
- Bibliographie Ernst Lothar 415
- Selbstständige Publikationen 415
- Unselbstständige Publikationen 421
- Inszenierungen 464
- Zeittafel 467
- Personenregister 473
- Werkregister 478