Seite - 85 - in Ernst Lothar - Schriftsteller, Kritiker, Theaterschaffender
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Enttäuschungen reichen Dasein hatte!« 169 Lothar schreibt in seiner Autobiogra-
phie, dass sein Vater noch am Tag dieses Streits an Herzversagen starb und er erst
durch den Arzt von der Krankheit des Vaters erfahren hatte. Hierbei handelt es
sich wohl um eine Dramatisierung der Ereignisse durch Ernst Lothar, da Josef
Müller tatsäch lich am 9. März 1927 in den frühen Morgenstunden verstarb,170
Lothar zu diesem Zeitpunkt seinen Roman aber noch nicht geschrieben bzw.
zumindest nicht beendet hatte.171 Mög lich ist, dass er den Plan zu diesem Buch
seinem Vater dargelegt hatte und die Idee dazu Auslöser des Konfikts gewesen
war. Immerhin war Lothar bereits 1925 in einem Das Recht, zu töten betitelten
Feuilleton für die Euthanasie eingetreten:
Jeder Mensch ist Herr über sein Geschick. Er muß, einzig er, bestimmen dürfen, ob
er zu leben, ob er zu sterben die Kraft besitzt. Daran darf keine Hand ihn hindern,
und jede, die ihm dazu hilft, hilft ihm zu seinem obersten Menschenrecht. Welch ein
Trost, welch ein unend lich stärkendes Gefühl wäre es, dies zu wissen: Ich werde nicht
leiden müssen. In dem Augenblick, da ich der Qual unrettbar verfalle, streckt eine
Hand sich nach mir aus. Eine, die nicht mordet. Eine, die mich liebt …172
Diese Conclusio des Feuilletons übernimmt Lothar in seinem Roman, sie ent-
spricht den Schlussworten des Plädoyers des Verteidigers. In vielerlei Hinsicht
ist dieses Feuilleton eine Art Vorstufe zu Lothars Mühle der Gerechtigkeit. Es
beschäftigt sich mit dem Recht auf den Tod, ausgehend von einem Gerichts-
prozess des Februars 1925: Die polnische Schauspielerin Stanisława Umińska
(1901 – 1977) hatte im Juli 1924 in Paris ihren unheilbar an Krebs erkrankten Ver-
lobten, den Maler und Schriftsteller Jan Żyznowski (* 1889), auf dessen Verlan-
gen hin erschossen, das Geschworenengericht sprach sie 1925 vom Vorwurf des
Mordes frei. Lothar war der Ansicht, dass »[e]in Dichter () kommen und die
Schauspielerin Uminska unsterb
lich machen (müsste). Denkmal einer Frau, die
den Geliebten so sehr liebte, daß sie ihn nicht leiden ließ.« Die Liebesgeschichte
von Stanisława und Jan sowie Stanisławas Tat eigneten sich seiner Meinung nach
169 EL: Das Wunder des Überlebens, S. 58.
170 Neue Freie Presse, 10. 3. 1927, S. 7. Vgl. auch Brief von EL an Heinrich Mann. Wien, 20. März
1927. Akademie der Künste, Berlin. Heinrich- Mann- Archiv, Teilnachlass I, Signatur: 1652.
171 Im Februar 1932 hatte Lothar in einer Besprechung Felix Costa, dem Geschäftsführer und
»Lektor« des Zsolnay Verlags, die Idee zu diesem Romanzyklus unterbreitet, der erste Teil
wurde zunächst unter dem vorläufigen Titel Das Verbrechen oder das Recht auf den Tod geplant.
Vgl. Murray G. Hall: Der Paul Zsolnay Verlag, S. 351.
172 EL: Das Recht, zu töten. In: Neue Freie Presse, 10. 2. 1925, S. 1 ff., hier S. 3.
Ein »starkfäustiger Ankläger« der Gesellschaft? 85
Open Access © 2016 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Ernst Lothar
Schriftsteller, Kritiker, Theaterschaffender
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ernst Lothar
- Untertitel
- Schriftsteller, Kritiker, Theaterschaffender
- Autor
- Dagmar Heißler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20145-8
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 484
- Schlagwörter
- österreichischer Schriftsteller, unveröffentlichte Werke und Korrespondenz, literarische Einflüsse und Beziehungen, Rezeption, Emigration, Theater
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 9
- 2. Quellenlage 15
- 3. 1890 – 1925: Literarische Nachwuchshoffnung 27
- 4. 1925 – 1935: »Einer jener Kritiker, die auch ein Stück Theaterdirektor sind« 53
- 5. 1935 – 1938: Theater in der Josefstadt – Max Reinhardts »rechte Hand und linker Fuß« 99
- 6. 1938 – 1946: Exil – »Emigrieren ist eine Sache für junge Menschen, die sich nicht erinnern« 135
- 7. 1946 – 1950: Rückkehr – »… und in Lothars Lager war Österreich« 243
- 8. 1950 – 1959: »Von allen meinen Kritikern bin ich der unerbittlichste« 293
- 9. 1959 – 1974: »… und so muss ein Stückchen Torso für ein Stückchen Ganzes gelten« 335
- 10. Schluss 373
- Literaturverzeichnis 385
- Anhang 415
- Bibliographie Ernst Lothar 415
- Selbstständige Publikationen 415
- Unselbstständige Publikationen 421
- Inszenierungen 464
- Zeittafel 467
- Personenregister 473
- Werkregister 478