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Neben Lothar sprossen weitere Kandidaten wie Pilze aus dem Boden, jeden
Tag brachten die Medien neue Namen ins Spiel: Richard Weichert, Herbert
Ihering, Leopold Jeßner, Renato Mordo, Karl Lustig- Prean, Heinz Kindermann,
Klemens Franckenstein, Friedrich Schreyvogl. Bis Ende Januar 1930 waren ins-
gesamt 48 Bewerbungen für den Posten eingegangen.188 Auch Lothar wurde
vom Generaldirektor der österreichischen Bundestheater, Franz Schneiderhan,
vorgeladen. Lothar telegrafierte Max Reinhardt nach Berlin, um ihn zu fra-
gen, ob er unter seiner Direk
tion jähr lich mindestens drei Inszenierungen am
Burgtheater durchführen würde. Reinhardt sagte zu, und Lothar war sich sicher,
dass dies sein »Anstellungsdekret« bedeutete. Er nahm das Telegramm mit zur
Unterredung bei Schneiderhan, es blieb allerdings wirkungslos.
Alle Kandidaturen wurden in Wien angeregt diskutiert. Stefan Zweig etwa
schrieb an den Theaterwissenschaftler und Schriftsteller Joseph Gregor, der
ebenfalls mit dem Posten des Burgtheaterdirektors liebäugelte, über seine Ein-
schätzung der Konkurrenten: Schreyvogl scheine von Ignaz Seipel persön lich
gefördert zu sein; da Max Mell aber offensicht
lich nicht wolle, existiere kein
wirk
lich bevorzugter Anwärter auf die Stelle. Wildgans sei gesundheit
lich nicht
agil genug, Kindermann habe bisher durch nichts seine Befähigung für derlei
Aufgabe gezeigt, und Lothar sei »durch semitisches Blut erledigt«.189 Woran
Lothars Berufung genau scheiterte, lässt sich nicht sagen, jedenfalls wurde Anton
Wildgans im Juli 1930 erneut zum Direktor des Burgtheaters ernannt.
Dennoch fanden Lothars Theaterambi tionen, wenn auch in anderer Hin-
sicht, ein Ventil. Wildgans musste sein Amt bereits eineinhalb Jahre nach seiner
Ernennung aus gesundheit
lichen Gründen niederlegen, ein gutes halbes Jahr
darauf verstarb er in Mödling. Zu seinem Nachfolger wurde Hermann Röbbeling
ernannt, der das Thaliatheater und das Schauspielhaus in Hamburg als privater
Unternehmer führte und beide finanziell konsolidieren konnte.190
Mit der Übernahme der Burgtheaterdirek tion durch Röbbeling begann
im Herbst 1932 für Lothar ein neuer Lebensabschnitt. Röbbeling engagierte
den Theaterkritiker, Grillparzers Trauerspiel Ein Bruderzwist in Habsburg zu
inszenieren. Wie es genau zu diesem Engagement kam, ist nicht zu klären, der
Großteil der Zeitungen meldete nur, dass Röbbeling Lothar eingeladen habe,
das Drama in Szene zu setzen,191 aber nicht, warum er gerade ihn als den dafür
188 Vgl. Neue Freie Presse, 26. 1. 1930, S. 12 f.
189 Knut Beck und Jeffrey B. Berlin (Hg.): Stefan Zweig. Briefe, S. 266.
190 Vgl. Frankfurter Zeitung, 17. 12. 1931, S. 1.
191 Vgl. Neue Freie Presse, 22. 4. 1932, S. 7; Arbeiter- Zeitung, 24. 4. 1932, S. 12.
1925 – 1935: »Einer jener Kritiker, die auch ein Stück Theaterdirektor
sind«90
Open Access © 2016 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Ernst Lothar
Schriftsteller, Kritiker, Theaterschaffender
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ernst Lothar
- Untertitel
- Schriftsteller, Kritiker, Theaterschaffender
- Autor
- Dagmar Heißler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20145-8
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 484
- Schlagwörter
- österreichischer Schriftsteller, unveröffentlichte Werke und Korrespondenz, literarische Einflüsse und Beziehungen, Rezeption, Emigration, Theater
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 9
- 2. Quellenlage 15
- 3. 1890 – 1925: Literarische Nachwuchshoffnung 27
- 4. 1925 – 1935: »Einer jener Kritiker, die auch ein Stück Theaterdirektor sind« 53
- 5. 1935 – 1938: Theater in der Josefstadt – Max Reinhardts »rechte Hand und linker Fuß« 99
- 6. 1938 – 1946: Exil – »Emigrieren ist eine Sache für junge Menschen, die sich nicht erinnern« 135
- 7. 1946 – 1950: Rückkehr – »… und in Lothars Lager war Österreich« 243
- 8. 1950 – 1959: »Von allen meinen Kritikern bin ich der unerbittlichste« 293
- 9. 1959 – 1974: »… und so muss ein Stückchen Torso für ein Stückchen Ganzes gelten« 335
- 10. Schluss 373
- Literaturverzeichnis 385
- Anhang 415
- Bibliographie Ernst Lothar 415
- Selbstständige Publikationen 415
- Unselbstständige Publikationen 421
- Inszenierungen 464
- Zeittafel 467
- Personenregister 473
- Werkregister 478