Seite - 94 - in Ernst Lothar - Schriftsteller, Kritiker, Theaterschaffender
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heiligen Eifers über die Frage nachdachte, wer eigent lich Grillparzer inszenieren könne,
und nach langem Grübeln plötz
lich in Erleuchtung ausrief: »Nur der Ernst Lothar!
Sonst niemand!« –? Nein, so war es sicher lich nicht; aber wie war es denn? Der Fall
ist so kraß, daß die Abwehr nicht scharf genug sein kann. Geschmacksfragen sind
schließ lich die Basis aller Kultur. Man kann nicht ausgerechnet Herrn Lothar sich
für Grillparzer bedanken lassen – denn dafür bedankt sich Grillparzer!204
Der Direktor des Burgtheaters aber bedankte sich bei Ernst Lothar, unbeein-
druckt von der Meinung der Neuen Zeitung, öffent lich für die Neueinstudie-
rung des Werkes.205 Er dankte ihm allerdings nicht nur mit Worten, sondern
verpfichtete ihn ein weiteres Mal als Gastregisseur: 1935 inszenierte Lothar das
seit 1882 nicht mehr im Burgtheater aufgeführte Hebbel’sche Trauerspiel Agnes
Bernauer. Er hatte auf dieses »vergessene Werk« »eindrück
lich« hingewiesen
und seine Wiederaufführung angeregt.206 Für diese bearbeitete er den Text für
die Bühne neu.207 Im Februar 1935 wurde Ernst Lothars Neuinszenierung mit
Nora Gregor in der Titelrolle aufgeführt. Die Bühnenbearbeitung wurde dies-
mal von der Kritik einhellig positiv aufgenommen,208 sie habe gezeigt, dass das
Hebbel’sche Stück kein »undramatisches Buchdrama« sei. Dennoch sei es nicht
vollkommen gelungen, das Werk von »der kühlen Ideensphäre« 209 zu befreien:
Friedrich Hebbel ist im Burgtheater ein seltener Gast, die kalte Größe seines Werkes
sendet eisige Schauer der Ehrfurcht ins Publikum. Und die Liebe, die diesem Klassiker
zeitlebens versagt blieb, kann auch die aktuelle »Agnes Bernauer« nicht erzwingen,
die Ernst Lothar als Gastregisseur des Burgtheaters ins Haus brachte. Regisseure
haben, wenn sie tagaus, tagein im Betrieb stehen und ein Stück nach dem anderen
herausbringen müssen, zu so tiefgründiger Vorbereitung, wie Ernst Lothar, des Burg-
theaters Sonntagsregisseur, keine Zeit, sie haben auch nicht die Begabung des Wortes,
204 Die Neue Zeitung, 2. 11. 1933, S. 3.
205 Hermann Röbbeling: Dank des Burgtheaters an Ernst Lothar. In: Neue Freie Presse, 5. 11. 1933,
S. 12. – Auch für die Inszenierung des Bruderzwists hatte sich der Burgtheaterdirektor öffent
lich
bedankt (Hermann Röbbeling: Dankschreiben des Burgtheaters an Ernst Lothar. In: Neue
Freie Presse, 25. 10. 1932, S. 8).
206 Reichspost, 16.2. 1935, S. 2 f., hier S. 3.; Wiener Zeitung, 16. 2. 1935, S. 11 f.
207 Vgl. Agnes Bernauer. Trauerspiel in fünf Aufzügen. Für die Bühne neu bearbeitet von Ernst
Lothar. [Mit Skizzen.] [Wien:] Burgtheater [um 1934]. 165 S.
208 Neues Wiener Journal, 15. 2. 1935, S. 3 f.; Neue Freie Presse, 15. 2. 1935, S. 6; Neues Wiener Tag-
blatt, 16. 2. 1935, S. 16; Wiener Bilder, 24. 2. 1935, S. 10.
209 Neue Freie Presse, 16. 2. 1935, S. 7; Wiener Zeitung, 16. 2. 1935, S. 11; Das Kleine Blatt, 17. 2. 1935, S. 17.
1925 – 1935: »Einer jener Kritiker, die auch ein Stück Theaterdirektor
sind«94
Open Access © 2016 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Ernst Lothar
Schriftsteller, Kritiker, Theaterschaffender
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ernst Lothar
- Untertitel
- Schriftsteller, Kritiker, Theaterschaffender
- Autor
- Dagmar Heißler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20145-8
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 484
- Schlagwörter
- österreichischer Schriftsteller, unveröffentlichte Werke und Korrespondenz, literarische Einflüsse und Beziehungen, Rezeption, Emigration, Theater
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 9
- 2. Quellenlage 15
- 3. 1890 – 1925: Literarische Nachwuchshoffnung 27
- 4. 1925 – 1935: »Einer jener Kritiker, die auch ein Stück Theaterdirektor sind« 53
- 5. 1935 – 1938: Theater in der Josefstadt – Max Reinhardts »rechte Hand und linker Fuß« 99
- 6. 1938 – 1946: Exil – »Emigrieren ist eine Sache für junge Menschen, die sich nicht erinnern« 135
- 7. 1946 – 1950: Rückkehr – »… und in Lothars Lager war Österreich« 243
- 8. 1950 – 1959: »Von allen meinen Kritikern bin ich der unerbittlichste« 293
- 9. 1959 – 1974: »… und so muss ein Stückchen Torso für ein Stückchen Ganzes gelten« 335
- 10. Schluss 373
- Literaturverzeichnis 385
- Anhang 415
- Bibliographie Ernst Lothar 415
- Selbstständige Publikationen 415
- Unselbstständige Publikationen 421
- Inszenierungen 464
- Zeittafel 467
- Personenregister 473
- Werkregister 478