Seite - 255 - in Ernst Lothar - Schriftsteller, Kritiker, Theaterschaffender
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und sie sind die ersten, die vernehm lich rufen – mit einer Vernehm lichkeit, die die
jüdische Rachesucht zwar nicht nennt, aber meint: »Breiten wir den Mantel der
christ lichen Nächstenliebe darüber. Ziehen wir einen Strich. Vergeben und verges-
sen.« Wenn man blasphemisch wäre, könnte man sagen, dass es diese Überlebenden
des Grauens nicht schwer haben, jetzt so zu sprechen, da sie ja überlebt [haben] und
außerdem regieren. Und dass hier etwas fast Diabo lisches geschieht. Den 6 Millio-
nen Vergasten stehen ich weiß nicht wie wenige arische Opfer gegenüber. Aber diese
wenigen fühlen sich berechtigt, die 6 Millionen noch nachher mores zu lehren, indem
sie den Sühneanspruch mit christ licher Nächstenliebe einfach wegeskamotieren und,
sich in die Brust werfend, als Regierungschefs, Minister, amtsführende Stadträte oder
was immer sie jetzt sein mögen, sagen: »Seht uns an! Wir sind Opfer der Nazis und
sind zum Vergeben bereit. Wenn wir es tun, die so viel gelitten haben, wie sollten es
da nicht alle andern auch?« Sie sagen das in fehlerhaftem Deutsch, mit einer Rhe-
torik, die der Hitlers zum Erschrecken gleicht. Das Argument ist so stark, optisch
und phonetisch, dass nichts daneben aufkommt. Noch dazu, denn das Teuf
ische
findet ja so leicht den himm lischen Segen, drapiert es sich in den Mantel der Kirche.
Sie, die unter Hitler so epochal versagte, hat ihren guten Magen wieder einmal zum
Auffressen der geschicht lichen Wahrheit und zum Ausspeien der Menschlichkeit
benützt. Sie regiert, als wäre nichts geschehen. Und sie segnet und verfucht wie eh
und je. Vor dem Kardinal,60 der Heil Hitler schrie – ich saß kürz
lich hinter ihm bei
einer Aufführung der »Ersten Legion« –[,]61 beugen sich die vor Kälte Bibbernden,
die nicht genug zu essen haben, mit der Bitte um Segen.
It[’]s all very complicated and not so nice either. Je genauer man unter die Räder
sieht […], desto weniger Hoffnung hat man, dass die ruinierte ungeölte Maschine wie-
der in Gang kommen kann. Und was haben wir dabei und damit zu schaffen? Haben
wir die acht Jahre Hitler ertragen müssen, um einen Strich darunter zu ziehen und
vor den amtsführenden Stadträten zu verleugnen, wer wir sind und was wir gelitten
haben? Das muss jeder so beantworten, wie er kann und darf.
Ich bin pathetisch geworden, womit ich mich an sich ins Unrecht gesetzt habe. Aber
ich wollte Ihnen nicht den mildesten Zweifel daran lassen, wie ich es sehe. Entschließt
60 Kardinal Theodor Innitzer, von 1933 bis 1955 Erzbischof Wiens, gab mit den österreichischen
Bischöfen am 18. März 1938 eine Loyalitätserklärung an das NS-Regime ab: Die »Feier liche
Erklärung« der Bischofskonferenz zu der für den 10. April 1938 angesetzten Volksbefragung
unterzeichnete Innitzer mit »Heil Hitler«. Dieses Dokument wurde u. a. für Plakate und Flug-
blätter verwendet, Innitzer wurde damit zum Propagandisten für das »Dritte Reich«. Vgl.
Maximilian Liebmann: »Heil Hitler« – pastoral bedingt, S. 82 ff.
61 Gemeint ist die Aufführung von Emmet Laverys The First Legion im Theater der Stephans-
spieler in Wien, das im Oktober 1946 eröffnet wurde.
»Als Allgewaltiger in Wien«: Amerikanischer Kulturoffizier 255
Open Access © 2016 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Ernst Lothar
Schriftsteller, Kritiker, Theaterschaffender
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ernst Lothar
- Untertitel
- Schriftsteller, Kritiker, Theaterschaffender
- Autor
- Dagmar Heißler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20145-8
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 484
- Schlagwörter
- österreichischer Schriftsteller, unveröffentlichte Werke und Korrespondenz, literarische Einflüsse und Beziehungen, Rezeption, Emigration, Theater
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 9
- 2. Quellenlage 15
- 3. 1890 – 1925: Literarische Nachwuchshoffnung 27
- 4. 1925 – 1935: »Einer jener Kritiker, die auch ein Stück Theaterdirektor sind« 53
- 5. 1935 – 1938: Theater in der Josefstadt – Max Reinhardts »rechte Hand und linker Fuß« 99
- 6. 1938 – 1946: Exil – »Emigrieren ist eine Sache für junge Menschen, die sich nicht erinnern« 135
- 7. 1946 – 1950: Rückkehr – »… und in Lothars Lager war Österreich« 243
- 8. 1950 – 1959: »Von allen meinen Kritikern bin ich der unerbittlichste« 293
- 9. 1959 – 1974: »… und so muss ein Stückchen Torso für ein Stückchen Ganzes gelten« 335
- 10. Schluss 373
- Literaturverzeichnis 385
- Anhang 415
- Bibliographie Ernst Lothar 415
- Selbstständige Publikationen 415
- Unselbstständige Publikationen 421
- Inszenierungen 464
- Zeittafel 467
- Personenregister 473
- Werkregister 478