Seite - 108 - in Joseph Lanner - Chronologisch-thematisches Werkverzeichnis
Bild der Seite - 108 -
Text der Seite - 108 -
Biographische Notizen
108
Ob Lanner Paganini intensiv studiert, vor einem Spiegel nachgemacht hat, ob er jemals über seine eigene
Podiumswirksamkeit reflektiert hat, ja, sie überhaupt „geplant“ hat, wissen wir nicht. In den Rezensionen
lassen unschwer Parallelen sich feststellen, die zeigen, wie sehr der Wiener Lokalchauvinismus sich seine
eigenen Virtuosen erschafft, wenn das Original Wien bereits den Rücken gekehrt hat. Der Hunger nach
dem Außergewöhnlichen verbindet sich mit einer Vertraulichkeit, die den vereinnahmt, der nicht ent-
schieden dagegen sich zu wehren weiß.
„Der wackere Lanner ließ seine Wundergeige tönen“281, war noch einer der harmloseren Schilderungen,
zunehmend mit Bekanntheit und Wirkung wurden die Adjektive blumiger. Lanner wurde als eine Art
Lokalausgabe eines Violinvirtuosen stilisiert (oder stilisierte sich selbst), hatte dabei aber stets Bedacht,
sein Können mit künstlerischer Wahrhaftigkeit in Einklang zu bringen. Hans Jörgels Einwände gegen
den Virtuosen Ernst282 (Johann Strauß Vater setzte ihm mit „Erinnerung an Ernst oder Der Carneval in
Venedig“ ein Denkmal), dessen artistische Leistungen eher an Zirkus als an Konzertpodien denken ließ,
wurden genussvoll aufgegriffen, hingegen die ehrliche und einfache Kunst eines Lanners gepriesen. Dieser
hatte dennoch von Paganini abgeschaut, wie man als Interpret sich in den Mittelpunkt zu stellen hatte,
um Wirkung zu erzielen. Dass er es nie übertrieb, nie weder zu Spott noch zu Nachsicht herausforderte,
war mindestens ebenso Leistung wie seine künstlerischen Qualitäten als Komponist.
Romantik – Biedermeier
„Ich habe letzthin in dem herrlichen und reizenden Garten-Lokale
‚Zum guten Hirten‘ Lanners neueste Composition ‚Die Abenteurer‘ gehört,
und während die eine Hälfte meiner Seele gewalzt hat,
hat die andere Hälfte sinnend und sinnig manchen Tönen gelauscht,
die aus seiner Violine wie lange dunkle Locken hineinflatterten
in die halberhellte Nacht, und sich Thränennaß um Herz und Ohr wickelten.
Seine Violine ist eine Doppelgängerin, sie lacht unter Thränen,
ist Heiter und Ernst zugleich, und seine Composition
lässt durch tausend zum Tanz verschlungene Gruppen
oft die Perspective auf eine romantische Landschaft
mit melancholischen Schatten und trauernden Genien offen.“
(Theaterzeitung 23. 8. 1834)
Wien am Beginn des 19. Jahrhunderts bot dem Betrachter ein verwirrendes Bild: eine Stadt, die be-
herrscht war von einer vom Zeitalter des Barocks geprägten Kultur der Inszenierung, in der Theater und
Oper in Hochblüte standen, der Wiener voll Sinn für Schaulust und volkstümliche Unterhaltung war.
In Österreich kämpfte (antiklerikale) josephinische Spätaufklärung gegen (antirevolutionären und anti-
napoleonischen) christlichen Konservativismus. Romantische (politische) Ideen, von deutschen Literaten
herein getragen, konnten hingegen kaum sich durchsetzen.283
Im frühen 19. Jahrhundert wurden Theorie und Ästhetik der Musik zu einem großen Teil von Poeten und
Literaten formuliert. E. T. A. Hoffmans bereits erwähnte Besprechung der 5. Sinfonie von Beethoven steht
am Beginn und reiht sich in eine lange Liste von Werkbetrachtungen, die mehr über den Standpunkt des
Verfassers als über die Komposition aussagen. Sie spiegeln wider, was das 19. Jahrhundert – auch – prägen
sollte: die Funktion des Zuhörers als aktiver Partner des Komponisten (das Werk entsteht im Augenblick der
Aufführung, in der Auffassung des Zuhörers), aber auch die prominenter werdende Rolle der Interpreta tion.
281 Theaterzeitung 10. 11. 1831.
282 Zitiert nach: Schönherr, Werkverzeichnis Johann Strauß Vater, a.a.O. S. 198.
283 Siehe die diversen Aufsätze in: Paradoxien der Romantik, hrsg. Aspalter, Müller-Funk, Saurer, Schmidt-Dengler, Tantner,
Wien 2006.
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- Danksagung 9
- Verzeichnis der Abkürzungen 10
- Biographische Notizen 13
- Reisen 16
- Beginn – Werden – Sein 21
- Vorläufer – Mitläufer – Nachfolger 23
- Tanz 28
- Bälle – Tanzstätten – Aufführungsorte 32
- Solisten – Ensemble – Kapelle – Orchester 39
- Akademie – Assemblée – Conversation – Piquenique – Réunion 42
- Publikum 44
- Werke 46
- Instrumentation 69
- Formen 79
- Notenmaterialien 86
- Widmungsträger 95
- Titel 97
- Verlage 100
- Quellen – Bibliotheken – Sammlungen 101
- Funktionalität – Autonomie – Interpretation 102
- Virtuosentum 106
- Romantik – Biedermeier 108
- Strahlender Stern – leuchtender Stern 112
- Rezension – Rezeption 113
- Flüchtige Lust 115
- Literatur 117
- I. Gedruckte und mit Opuszahlen versehene Werke
- II. Nicht mit Opuszahlen versehene Werke
- III. Sammelwerke und diverse Werke 717
- IV. Anhang