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Das Masken-Tragen drückt aber nicht nur Solidarität aus, sondern auch
Gleichheit. Mag der Mensch hinter der Maske wohlhabend, gebildet, ein-
flussreich oder angesehen sein: Die Hygienemaßnahmen und die damit
verbundene Angst um eine Verbreitung der Krankheit zwingen allen, un-
abhängig vom gesellscha#lichen Status, dieselben Regelungen auf. Die
Maske scheint zu suggerieren, dass wir alle gleich sind, weil das Virus kei-
ne Unterscheidungen zwischen den sozialen Zugehörigkeiten macht. Im
Angesicht der Krankheit finden wir uns durch das verbindende Element
der Maske auf Augenhöhe mit Menschen, mit denen wir in sozialer Hin-
sicht sonst nichts gemein haben. Die Bedrohung durch das Virus kann nur
gemeinsam bewältigt werden, weil wir alle gleich in Gefahr sind.
Soweit nun die Illusion. Denn natürlich sind wir nicht deswegen alle
gleich, weil wir alle denselben Einschränkungen unterliegen und in der
Ö!entlichkeit Masken tragen. Der Gedanke, sozial produzierte Ungleich-
heiten könnten durch bedrohliche Faktoren ausgeglichen oder gar besei-
tigt werden, ist abzulehnen. Eine Pandemie trägt ebenso wenig zu sozialer
Gleichheit bei, wie es ein Erdbeben oder eine Dürreperiode können. Statt-
dessen verstärkt sie die Ungleichheiten: Gerade in Situationen existenziel-
ler Bedrohung kommen soziale Unterschiede erst recht zum Tragen.
Selbstverständlich können auch Menschen in sozial besser gestellten Po-
sitionen erkranken und sterben, aber gerade ihre gesellscha#liche Stellung
ermöglicht es ihnen, Entscheidungen zu tre!en und Möglichkeiten wahr-
zunehmen, die ihr Ansteckungsrisiko verringern und ihnen im Krank-
heitsfall höhere Überlebenschancen bieten. Gleichzeitig sind diejenigen,
die ohnehin schon sozial benachteiligt werden, wegen Ungleichheiten mit
höherem Infektions- und Sterberisiko konfrontiert. Während die einen al-
so trotz ihrer privilegierten Stellung erkranken können, werden die ande-
ren gerade wegen der Benachteiligung der Krankheit ausgesetzt.
Nun wäre es aber gewiss weder fair noch zutre!end, das Zusammenge-
hörigkeitsgefühl als reine Inszenierung oder Augenwischerei abzutun.
Man könnte es hingegen als Brücke zu einem Verständnis der Pandemieer-
fahrung als einer speziellen Form von Übergangsritual interpretieren.
Die Pandemie als ungewolltes Übergangsritual
In Anlehnung an Arnold van Gennep, der zu Beginn des 20. Jahrhundert
eine nachhaltig einflussreiche Theorie formulierte, kann ein Übergangsri-
tual als eine Reihe von Handlungen definiert werden, durch die ein
Mensch eine sozial relevante Transformation durchmacht. Dabei kann es
sich sowohl um religiöse Rituale handeln, wie beispielsweise eine christli-
Die Pandemie als Ritual – ein Gedankenspiel
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https://doi.org/10.5771/9783748922216, am 10.02.2021, 12:13:48
Open Access - - https://www.nomos-elibrary.de/agb
Religion, Medien und die Corona-Pandemie
Paradoxien einer Krise
- Titel
- Religion, Medien und die Corona-Pandemie
- Untertitel
- Paradoxien einer Krise
- Autor
- Daria Pezzoli-Olgiati
- Herausgeber
- Anna-Katharina Höpflinger
- Verlag
- Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-7489-2221-6
- Abmessungen
- 15.3 x 22.7 cm
- Seiten
- 134
- Kategorien
- Coronavirus
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 7
- Fahren auf Sicht im Nebel des notwendig Undeutlichen 11
- Wenn jetzt alles anders ist, wie ist es denn immer gewesen? 13
- «Wir sitzen zu Hause und draußen geht die Welt unter» 17
- Gemeinscha!en in Isolation 23
- Leere Tempel, volle Livestreams in China 27
- Digitale Au!ührungen des Ausnahmezustands 35
- Ambivalente Deutungen des Virus in Facebook-Communities 41
- Krise und Solidarität im öffentlichen Raum 49
- Solidarität zwischen Kirche und Suppenküche 51
- Leid und Hoffnung einer Nation im Grati 59
- Unterhaltung in der Pandemie 67
- Lieder zwischen Krisenbewältigung und Entertainment 69
- Witz und Religionskritik in Internet-Memes 77
- Der Tod als mediale Inszenierung 85
- Einsamer Abschied vor aller Welt 87
- Das Virus ist unsichtbar, der Tod ganz konkret 93
- Wirklichkeitsdeutung zwischen Fakten und Fake News 101
- Erlösung durch Kapitalismus 103
- Die Verschwörung(en) hinter der Pandemie 111
- Ausblicke ins Ungewisse 119
- Die Pandemie als Ritual – ein Gedankenspiel 121
- Prophetische Metaphern der postpandemischen Zeit 127
- Abbildungsverzeichnis 133