Seite - 14 - in WeXel oder Die Musik einer Landschaft - Das Geistliche Lied, Band 1
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Zum vorliegenden Band
(Reichenberg 1926). Die liedgeschichtlich vertiefte Darstellung der „Leichhüat-Lieder“ des Wechsel-
gebietes öffnet eine historisch ergänzende Sicht auf die Fülle der publizierten Gesänge.
Eine von der niederösterreichischen Landesregierung an das „erzbischöfliche Konsistorium am
15tn Febr. 1800 übermittelte Anzeige“ lässt erkennen, dass diese Lieder nicht von jedermann
geschätzt waren. Die kirchliche Stelle war aufgefordert, sich zur Beschwerde eines anonymen
Anzeigers „anher zu äußern, ob die Absingung deutscher Totenlieder auf dem Lande wirklich be-
stehe“, resp., „wenn dieses wäre, ob dieses Absingen nicht als ein Mißbrauch abzustellen sey?“:
Es ist die Anzeige anher gelangt, daß auf dem Lande bey Leichenbegängnissen der anstößige Mißbrauch
bestehe, vermöge dessen keineswegs normalmäßige deutsche Totenlieder abgesungen würden. Diese
würden beym Hause des Toten, bevor der Priester zu beten anfange, von mehreren Stimmen gesungen.
Der Inhalt dieser albernen Lieder sey, daß der Tote von seinen Kindern, Verwandten, Weibe oder Man-
ne, Ältern, Geschwistern u. dgl. nach seinen jedesmaligen Verhältnissen verschieden Abschied nehme,
sich manchmal beklage, daß er so früh sterben mußte, u. dgl. Diese Gesänge, obschon nichts weniger
als Meisterstücke der Poesie, allein durch eine klägliche Melodie unterstützt, machten doch immer auf
die schon tief betrübten Herzen der Verwandten einen solchen Eindruck, daß diese, obschon sie vorher
sich bey ihrem Unglücke gefaßt zu haben schienen, nun wie unsinnig in Tränen und Jammergeschrey
ausbrachen,4 und in die schwerste Melancholie verfielen. Wenn man nun wisse, daß der überlebende
Teil, dessen Lebenskräfte, wenn er auch noch so gesund sey, durch Krankenwarten, Wachen, Mangel
und Not u.s.a. ohnehin geschwächt seyen, durch das Übermaß von Betrübnis ins Krankenbette sinke,
oder bey Epidemien, wenn er schon krank sey, durch solche herzerschütternde Gesänge, die unmittelbar
vor seinem Krankenlager geächzt wurden, oft vollends getötet werde, so könne man nichts sehnlicher,
als die Abschaffung dieser bizarren Elegien wünschen. Es würde also an dem Absingen des miserere
während dem Leichzuge, wenn schon etwas Trauriges gesungen werden müßte, genug seyn.
(Wien, Diözesanarchiv I/XXXVI, Nr. 90, 1800. Abschrift: NÖVLA, A 380)
Der kirchliche Offizial hält den „unbekannten Anzeiger“ in der offiziellen „Äußerung“ des erzbischöf-
lichen Konsistoriums vom 25. April 1800
[…] für einen schwärmenden Träumer, […] der Gespenster sieht, wo sie nicht sind; der die Empfin-
deleyen, mit denen er etwa als Weichling behaftet zu seyn das Unglück hat, einem Landvolke, das die
harten Leibesanstrengungen davor sorgfältig verwahret, anzudichten.
Das Ergebnis eines von den Landpfarrern und Dechanten angeforderten Berichts zum Gebrauch von
„deutschen Liedern bey Leichenbegängnissen auf dem Lande“ war übereinstimmend, dass
[…] beynahe allgemein, und von unerdenklichen Jahren her bestehe, daß das Landvolk darauf einen
großen Wert setze, und der letzten Ehre, die es dem Verstorbenen zollet, wenn es diese Lieder unterließ,
nicht Genüge geleistet zu haben vermeine, daß nie ein solches Lied abgesungen werde, außer es werde
ausdrücklich verlanget; daß endlich diese Lieder, wenn sie schon keine Meisterstücke der Poesie, doch
der Fassungskraft des Landvolkes angemessen, im übrigen nicht albern, nicht lächerlich, aber auch
nicht so herzbrechend seyen, daß deren Anhörung Unsinn, Raserey, Jammergeschrey, Krankheiten den
Tod gebäre.
Viele der Pfarrer schickten die Lieder ein, die bey ihnen abgesungen werden, und diese enthalten nichts
anderes, als Aufforderung der Leichenbegleiter zum Gebete für die Seelenruhe der Verstorbenen, heil-
same Ermahnungen, den Tod stets vor Augen zu haben, sich zu selbem, da es noch Zeit ist, vorzu-
bereiten, dem göttlichen Willen, und der Vorsicht zu ergeben, die Vergänglichkeit des Zeitlichen zu
betrachten, sein Herz ob es gegenwärtig auf den Tod gefasst sey, zu durchforschen, rückgelassene Ehe-
gatten, verwaiste Kinder der milden Unterstützung anderer Menschenfreunde anzuempfehlen. Sie ent-
halten Trostgründe, Betrachtungen über das Schicksal der Sterblichen u. dgl. […]
4 Wie bereits Pfarrer Schänzl 1882 feststellt, berichten auch 2013 die Leichhüatliadl-Sängerinnen in Ehrenschachen,
dass es „kein lauts Weinen beim Begräbnis gibt“.
WeXel oder Die Musik einer Landschaft
Das Geistliche Lied, Band 1
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- WeXel oder Die Musik einer Landschaft
- Untertitel
- Das Geistliche Lied
- Band
- 1
- Autoren
- Erika Sieder
- Walter Deutsch
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79584-1
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 648
- Schlagwörter
- Wechselgebiet, Geistliches Lied: Leichhüatlieder, bäuerliche Tradition der Totenwache, historische Tondokumente, Wörterbuch, Melodienincipits
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Abkürzungen 10
- Zum vorliegenden Band 12
- Die Landschaft 18
- Der Totenbrauch 24
- 1. Die Totenwache 26
- 2. Das Begräbnis und das Totenmahl 33
- 3. Das Singen 38
- 4. Das Liedgut und seine Quellen 40
- 5. Die Liedgattungen 47
- Die Sammlung: Lei(ch)hüat- / Leichwåcht-Liadln – Lieder zur Totenwache 59
- Anmerkungen zur Edition der Lieder 60
- Johannes Leopold Mayer
- Zusammenfassung
- Register für das Wechselgebiet und die angrenzenden Regionen in Niederösterreich und in der Steiermark
- Allgemeines Register
- a) Ortsregister 601
- b) Personenregister 607
- Sachregister 613
- Register der Liedanfänge, Sammelorte und Tonaufzeichnungen 618
- Inhaltsverzeichnis und Begleittext zu den beiliegenden Tondokumenten 629
- Sängerinnen, Sänger und Vorbeter der Tonaufzeichnungen 630
- Inhaltsverzeichnis zu den beiliegenden CDs 632
- Autoren und Mitarbeiter 640