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J. L. Mayer â Irdische Lieder fĂŒr âs ewige Leben
Strophe, in seinem inhaltlichen Aufschwung vom Irdischen zum Himmlischen, in einer Variante des
so typischen StoĂgebetes âJessasmarandjosephâ.
In dieser Art der Eingewobenheit erweisen sich die kennzeichnenden Merkmale der österreichi-
schen Frömmigkeit als PhÀnomene, die aufgrund ihrer steten PrÀsenz und somit ihrer stÀndigen
VerfĂŒgbarkeit die Möglichkeit schaffen, sie frei zu handhaben. Das bedeutet, dass in vielen Zusam-
menhĂ€ngen auf sie nach Bedarf zurĂŒckgegriffen werden kann, ohne dass dadurch ein gedanklicher
Bruch entstĂŒnde. Ein hohes MaĂ an gestalterischer und somit geistiger Freiheit ist hier, wo Phantasie
und AssoziationsfÀhigkeit wesentlich sind, wohl unumgÀnglich.
So offenbaren diese nach auĂen hin so schlichten Lieder in ihrer frei zu handhabenden Gebunden-
heit an die groĂen und bedeutsamen SĂ€ulen der âpietas austriacaâ nicht zuletzt eine FĂ€higkeit der
Menschen, welche sich der Formen- und Ausdruckssprache dieser österreichischen Frömmigkeitsform
bedienen, GesamtzusammenhÀnge zu schaffen.
Zum Ersten solche zwischen den hier Lebenden zu den schon dort Lebenden. Dieses ist möglich,
weil das âHierâ und das âDortâ als folgerichtig zusammengehörig zu verstehen sind. Der Tod bildet
gleichsam die Naht, welche sowohl trennt wie auch verbindet. âWeltâ als Gesamtheit hat eine ârealeâ,
das heiĂt irdische Seite und eben gleichermaĂen als âHimmelâ eine mystische.
Des Weiteren entsteht ein Zusammenhang zwischen allen, die als menschliche Geschöpfe leben,
zu Gott als dem Schöpfer allen Lebens und damit zu seinen Heiligen, auf deren verstÀndnisvolles
FĂŒrsprechen gehofft werden darf. So erklingen diese Lieder letztendlich in dreierlei Hinsicht: fĂŒr
die Dahingegangenen nĂ€mlich ebenso wie fĂŒr die vorerst noch Verbliebenen, die ja auch â und wie
lange wird es denn noch dauern â Dahingegangene sein werden und fĂŒr den Lieben Gott im Kreise
seiner Heiligen â die Gottesmutter Maria ihnen allen voran. Und sie erklingen als Lob, Dank und
gleichzeitig als Bitte.
Das Singen solcher Lieder ist damit nichts weniger als Teil einer ReprÀsentation. Und diese ist,
wie es der fĂŒr die Fragen der österreichischen IdentitĂ€t so wesentliche Historiker und Kulturphilo-
soph Friedrich Heer verstĂ€ndnisvoll ausdrĂŒckt, jene âgroĂe ReprĂ€sentation, die einst durch Liturgie,
sakrale Prozession, âWelttheaterâ vielfach, nicht nur am kaiserlichen Hof, als eine Manifestation des
ganzen Menschenlebens erlebt wurdeâ.121 Das ganze Menschenleben: das ist ebendieses Leben in der
FĂŒlle seiner Gesamtheit von irdisch und ewig, in seinen BezĂŒgen zum Profanen und zum Heiligen, in
der Beziehung zwischen Gott und Mensch.
Davon wird fromm gesungen auch in diesen Liedern zum âLeichwĂ„chtnâ â und sei es auf noch so be-
scheidene Weise, welche sich aber gegebenenfalls zur grandiosen Kunst auswachsen kann, wie es das
Wirken von Persönlichkeiten wie Joseph Haydn und Anton Bruckner, die Kinder vom Land, belegt.
Das Singen vom Tod ist als Singen vom Leben zu begreifen. Und wovon da gesungen wird, das ist
auch ebendieses Leben, in dem die Menschen, welche es leben, um die Beherrschung einer gleichsam
nach dem Vorbild des dreieinigen Gottes dreieinig zu handhabenden Kunst bemĂŒht sind: der âars
amandi, der ars vivendi und der ars moriendiâ122. Das BemĂŒhen um jene sich in dieser dreifachen
Weise entfaltenden Kunst findet im Raum eines âZustandes des sich Auskennensâ statt. Darinnen
erzÀhlen die Menschen einander unter Bezugnahme auf ihnen vertraute Beziehungsgeflechte, die
durch bestimmtes Verhalten vor der Allgemeinheit zum Ausdruck kommt, die lebenswichtigen
wahren Geschichten vom Leben. Und diese sind gerade angesichts des Todes und eines toten
Menschen, wie es die niederösterreichischen und steirischen Lieder zum âLeichwĂ„chtnâ zu zeigen ver-
121 Friedrich Heer: Der Kampf um die österreichische IdentitÀt, 1. Auflage. Wien, Böhlau, 1981, S. 436.
122 Vgl.: Friedrich Heer: Der Kampf um die österreichische IdentitÀt. A.a.O., S. 114.
WeXel oder Die Musik einer Landschaft
Das Geistliche Lied, Band 1
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- WeXel oder Die Musik einer Landschaft
- Untertitel
- Das Geistliche Lied
- Band
- 1
- Autoren
- Erika Sieder
- Walter Deutsch
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79584-1
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 648
- Schlagwörter
- Wechselgebiet, Geistliches Lied: LeichhĂŒatlieder, bĂ€uerliche Tradition der Totenwache, historische Tondokumente, Wörterbuch, Melodienincipits
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- AbkĂŒrzungen 10
- Zum vorliegenden Band 12
- Die Landschaft 18
- Der Totenbrauch 24
- 1. Die Totenwache 26
- 2. Das BegrÀbnis und das Totenmahl 33
- 3. Das Singen 38
- 4. Das Liedgut und seine Quellen 40
- 5. Die Liedgattungen 47
- Die Sammlung: Lei(ch)hĂŒat- / LeichwĂ„cht-Liadln â Lieder zur Totenwache 59
- Anmerkungen zur Edition der Lieder 60
- Johannes Leopold Mayer
- Zusammenfassung
- Register fĂŒr das Wechselgebiet und die angrenzenden Regionen in Niederösterreich und in der Steiermark
- Allgemeines Register
- a) Ortsregister 601
- b) Personenregister 607
- Sachregister 613
- Register der LiedanfÀnge, Sammelorte und Tonaufzeichnungen 618
- Inhaltsverzeichnis und Begleittext zu den beiliegenden Tondokumenten 629
- SĂ€ngerinnen, SĂ€nger und Vorbeter der Tonaufzeichnungen 630
- Inhaltsverzeichnis zu den beiliegenden CDs 632
- Autoren und Mitarbeiter 640