Seite - 75 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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Innerhalb Österreichs – Konfrontationen mit
»österreichischen Illusionen«
Am 4. Dezember 1948 brachte um 7 : 30 Uhr morgens der Arlbergexpress aus
Zürich den amerikanischen Staatsbürger Berthold Viertel zurück in seine Ge-
burtsstadt. Es war die erste Wiederbegegnung Viertels mit Wien nach zwölf
Jahren. Bereits seit über dreißig Jahren hatte Viertel nicht mehr hier gelebt. Es
war keine Heimkehr, stellte er immer wieder klar, sondern eine Rückkehr aus
dem Exil.
Die ersten Tage und Wochen in Wien sind in Viertels Arbeits- und Notiz-
büchern gut dokumentiert und anhand dieses Materials kann Viertels Konfron-
tation mit alten und neuen »österreichischen Illusionen« verdichtet nachvollzo-
gen werden. Hier sichtbar werdende Spannungen wirkten in seinen letzten fünf
Jahren nach und beeinflussten die Endphase autobiografischen Schreibens über
die Stadt der Kindheit, wie der neue Arbeitstitel lautete.
Viertels Erinnerungen an sein Wien um 1900 begannen sich schon angesichts
des Westbahnhofs zu überstürzen. Von diesem Bahnhof aus war er als Kind in
die Sommerfrische, als Maturant nach Paris und als junger Mann in den Ersten
Weltkrieg aufgebrochen.1 Von dem »einst so schönen, im Jugendstil erbauten«
Gebäude war 1948 nur noch ein »Eisengerippe« übrig.2 Gleich als Viertel aus-
stieg, entdeckte er aber auch unversehrte Reste des »privaten Altertums« : Dem
Bahnhof schräg gegenüber empfing das 1895 eröffnete Café Westend, das sein
Vater frequentiert hatte, noch immer seine Gäste. Und beim Abwickeln der
Einreiseformalitäten fiel Berthold Viertel das gegenwärtige, besetzte Wien auf.
Er nahm es in der »forschen Jugendlichkeit«, der »vergleichsweisen Eleganz«
und »munteren Beredsamkeit« der Zollbeamten wahr, die zum abgenützten, von
Bretterhütten umgebenen Bahnhof einen Kontrast bildeten : »Durch wie viele
Zollämter war der Heimkehrer gegangen in den letzten Jahren mit ihren mehr-
fachen Emigrationen […] !«3
1 BV, Stadt der Kindheit, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 79–82. BV meinte sich
zu erinnern, dass er vom Westbahnhof aus in der Ersten Weltkrieg aufbrach
– wahrscheinlicher ist,
dass er vom Südbahnhof an die Ostfronst abfuhr.
2 Kokoschka, Oskar, Mein Leben, Wien 2008, 112.
3 BV, Stadt der Kindheit, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 79. Während Viertel sol-
che zeitenüberspringenden »Kurzschlüsse« mit der »heimatlich-unheimlich-anheimelnden Stadt«
hatte, wurde seine Ankunft in Wien nur in einer kurzen Notiz im Wiener Kurier medial registriert.
Eine Seitenrubrik der Wiener Zeitung
– einst offizielles Organ der österreich-ungarischen Monar-
chie
– verwies auch darauf, dass dieser Tage vor genau hundert Jahren der Habsburger Franz Joseph
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359