Seite - 184 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
Bild der Seite - 184 -
Text der Seite - 184 -
Mitschüler Hitler
Zu Beginn des Jahres 1895 war der Wiener Journalist Theodor Herzl, Feuille-
tonredakteur der Neuen Freien Presse, als Korrespondent in Paris und wurde dort
Zeuge der öffentlichen Degradierung des wegen angeblichen Landesverrats
verurteilten jüdischen Hauptmannes Alfred Dreyfus. Dieses Ereignis und die
antisemitische Hetze, die den Prozess gegen Dreyfus begleitete, gab Herzl
– der
sich als deutschnational orientierter Liberaler eigentlich nicht als Jude identifi-
ziert hatte – den Anstoß, sich an »einer modernen Lösung der Judenfrage« zu
versuchen. Knapp ein Jahr später erschien sein schmales, aber wirkmächtiges
Buch Der Judenstaat (1896) als »intuitive« Reaktion auf neue Formen eines po-
litischen und rassistischen Antisemitismus, gegen die rational anscheinend nicht
anzukommen war. Herzls Programm war modern und radikal, es knüpfte nicht
an in diesem Zusammenhang bereits geschaffene Strukturen an – und es war
umstritten.1 Vertreter der Israelitischen Kultusgemeinde wie der Rabbiner Mo-
ritz Güdemann, die das »Judentum« als antinationale, weltbürgerliche Religion
verstanden, distanzierten sich ebenso wie Rabbiner Joseph Bloch, für den das
Jüdische die Verkörperung eines abstrakt bleibenden Österreichertums war.2
Karl Kraus
– der wenig später aus der jüdischen Gemeinde austrat
– wies in Eine
Krone für Zion (1898) auf die wechselseitige Abhängigkeit von Zionismus und
Antisemitismus hin, die er beide für kleingeistig hielt.3
Dennoch war auch Herzls GegnerInnen klar, dass der Fall Dreyfus die Idee
der »Assimilation« in Frage stellte. Auch in Österreich hatte ein neuer Alltags-
antisemitismus in den letzten Jahren das Lebensgefühl der jüdischen Bevölke-
rung verändert. Junge Jüdinnen und Juden, vor allem aus der Peripherie des
Kaiserreichs, waren also durchaus offen für Herzls Programm, das nationalen
Befreiungsbewegungen verpflichtet war. Auch Personen wie Sigmund Freud
und Stefan Zweig – beide skeptisch gegenüber Nationalismen und ambivalent
in Bezug auf ihre jüdische Identität – betrachteten die zionistische Bewegung
als notwendig, um das Selbstbewusstsein der jüdischen Bevölkerung zu stärken.4
Albert Ehrenstein behauptete sogar, »es dürfte keinen von den Juden Stammen-
1 Timms, Dynamik der Kreise, 2013, 53.
2 Lichtblau (Hg.), Als hätten wir …, 1999, 110–113.
3 Kouno, Performativität, 2015, 32–35.
4 Wagner, Nike, Theodor Herzl oder das befreite Wien, in : Sobol, Weiningers Nacht, 1988, 165–186 ;
Wistrich, Socialism, 1982, 210–219.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359