Seite - 228 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
Bild der Seite - 228 -
Text der Seite - 228 -
Studium
Knapp vor ihrer Maturaprüfung im Dezember 1903 waren Berthold Viertel und
Karl Adler noch immer nicht von ihrem »Kulturanarchismus« abgekommen, wie
Kathia Adler festhielt : Als nächsten Schritt wollten sie zum Schein ein Studium
inskribieren, um eigentlich »3 Jahre die Welt anzusehen«.
Mit Welt ansehen meinen sie […] in Wien spazieren gehen. […] Dass sie für die drei
Jahre sich nicht die materiellen Mittel bei ihren Eltern beschaffen werden ist Ihnen
ganz klar, sie hoffen aber erlangen zu können, dass sie bis Oktober nichts zu thun
brauchen. Dann wollen sie das Einjährigenjahr machen. Viertel allerdings glaubt […],
dass man ihm es nicht einmal bis Oktober erlauben wird. Falls sie nicht zum Militär
genommen werden, will Karl etwas studieren, Viertel in ein Geschäft gehen. Viertel
glaubt nämlich, dass man bei ihm zu Hause zu schnell auf die Art seines ›Studiums‹
draufkommen würde und sieht ein, dass es besser sei, lieber gleich einen anderen Weg
zu betreten.1
Ende Dezember 1903 kam der im akademischen Sinne für »reif« erklärte Ber-
thold Viertel nach Wien zurück und lebte wieder bei seiner Familie, die inzwi-
schen in die Hugo-Wolf-Gasse 1 im sechsten Bezirk umgezogen war. Es ist
unwahrscheinlich, dass er mit seinen Eltern seine weiteren Pläne derart be-
sprach, wie es bei der Familie Adler üblich gewesen war. Auch die Frage, ob der
»überspannte« Sohn anstelle eines Studiums nicht besser einen praktischen
Beruf ergreifen sollte, kam nach dem erfolgreichen Schulabschluss vermutlich
nicht nochmals zur Sprache. Berthold Viertel selbst hatte den einmal Vater ge-
beten, Tischler, werden zu dürfen.2 Stefan Zweig zufolge war solch ein Abbruch
der akademischen Ausbildung die »schlimmste Drohung, die es in der bürgerli-
chen Welt gab«, da nichts weniger auf dem Spiel stand als »der Rückfall ins
Proletariat«.3 Und die Viertels, die den Sohn auch nicht in die eigenen Ge-
schäfte involvierten, hatten den dezidierten Wunsch, dass er die nächste gesell-
schaftliche Stufe erreichte :
1 Kathia Adler an Emma Adler, 18. Dezember 1903, M76, T4, Adler Archiv, VGA.
2 BV, Die Stadt der Kindheit bzw. Zürich, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 121 u.
148.
3 Zweig, Welt, 1992, 52.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359