Seite - 118 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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Monarchisches Gefühl
Berthold Viertels Generationen der Moderne lebten in einem »elektrisch erhell-
ten Wien«, in dem aber noch altertümlich anmutende Festzüge – »Burgparaden
und Fronleichnamsprozessionen« – stattfanden.1 Es waren glanzvolle Reprä-
sentationen und Machtdemonstrationen der katholischen Kaiserfamilie, der
Habsburger, und ihres damaligen Oberhauptes Kaiser Franz Joseph I. Die
Habsburger, die »Österreich« in 600 Jahren als »Konglomerat der Völker […]
zusammengeballt« hatten, waren für Viertel das beständigste Relikt einer »alten
Zeit« :
Zusammengeheiratet und zusammengeschachert, Besitz einer einzigen Familie, die
damit Handel treiben konnte, die Habsburger, die einst bis nach Spanien […] hinüber
geherrscht hatten ; Rest des gewaltigen Römischen Reiches katholischen Glaubens
und deutscher Nation. Die Religionen hatten sich bekämpft wie die Völker ; und der
nationalen wie der religiösen Überzeugung waren unzählige Opfer gefallen. Und dann
kamen die Revolutionen in Europa […] ; aber die Dynastie hatten sie nicht wegge-
räumt. Die eine Familie war stärker gewesen als alle elf Völker, oder wie viele man
zählen mochte.2
Die Herrschaft der Dynastie Habsburg wirkte um 1900 nicht nur aufgrund ihrer
langen Aufbau- und Expansionsgeschichte »natürlich« und »gottgegeben«. Als
moderne Entwicklungen wie Säkularisierung und vor allem zunehmender Na-
tionalismus um die Jahrhundertwende begannen, die Habsburger in Frage zu
stellen, waren sie für die Mehrheit bereits zu sehr zu einer »politischen Notwen-
digkeit« geworden und »unerlässlich«, um dem weitläufigen, »komplizierten und
überdies auseinanderstrebenden« Habsburgerreich »eine sichtbare, juristisch
haltbare Einheit zu verleihen«3. Abseits ihres Gottesgnadentums konnten sich
die HabsburgerInnen seit dem 18. Jahrhundert auch auf eine andere starke Le-
gitimationsgrundlage stützen – auf einen bürokratisch organisierten, zentralisti-
schen »Rechtsstaat«, den vor allem der aufgeklärte Absolutismus Josephs II.
institutionalisiert hatte. Durch diese Kombination aus traditionellen und mo-
dernen Versatzstücken war die Herrschaft der Habsburger gesichert, auch wenn
die »nationale Frage« dabei ein »politisches Zentralproblem« und eine potentiell
1 BV, Heimkehr nach Europa, geschrieben um den 9. November 1932, 296, K19, A : Viertel, DLA.
2 BV, Österreichische Illusionen/Der Knabe Robert Fürth, o.D., o.S., NK12, A : Viertel, DLA.
3 Broch, Hofmannsthal, 2001, 56.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359