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Jugendliche Kulturanarchisten
Das vor seinen Toren tobende »Nationenspiel« drang nicht ins Innere des baro-
cken Palais Kaunitz, worin das Mariahilfer- oder Amerling-Gymnasium seit
1869 untergebracht war. »Was das Ringen der Völker um Selbständigkeit und
organisches Wachstum, was gar die nur mit Anführungszeichen erwähnte ›sozi-
ale Frage‹ betraf, so hätte das Gymnasium in der Amerlinggasse ebensogut in
der Stratosphäre liegen können«, schrieb Berthold Viertel über die Schule, die
er 1894 bis 1903 besuchte.1 Hinter »heruntergelassenen Jalousien« lehrte und
lernte man hier klassisch-humanistisch nach Humboldtschem Modell, das in
der Habsburgermonarchie erst 1849 die pädagogische Tradition der Jesuiten
abgelöst hatte. Einige »Überbleibsel ehemals priesterlicher Pädagogie, die säku-
larisiert wurde, um dem geistigen Wohl liberaler Untertanen zu dienen«, blieben
dabei noch erhalten, wie Viertel meinte.2 Doch grundsätzlich hatte die Gymna-
sialreform entscheidende Veränderungen gebracht : Die alten SprachenÂ
– Latein
und Griechisch – und die Philosophie als Fächer, in denen nach allgemeiner
Ăśberzeugung die Fundamente der Bildung gelegt wurden, wurden zugunsten
von mehr Allgemeinbildung, mathematischer und naturwissenschaftlicher Fä-
cher zurückgedrängt – im Vergleich zu Deutschland war das zunächst sehr
fortschrittlich.3
Dort wurde jedoch um 1900 eine grĂĽndliche Modernisierungsreform des
Unterrichts an höheren Schulen auf »nationaler Basis« vorbereitet, gegen die das
humanistische Gymnasium und die österreich-ungarische Bildungspolitik dann
doch wieder konservativ, elitär und »verspätet« wirkten, durch die sich aber auch
»die […] Schüler der anspruchsvollen Wiener Gymnasien […] mit Recht als die
wahren und letzten Repräsentanten der humanistischen Bildung betrachten«
konnten.4
Diese »Schüler«5 allerdings empfanden den Schulbetrieb als monoton, geist-
und herzlos, stumpf, öde, trocken, kasernenhaft, unlebendig, muffig und modrig.
1 BV, Die Stadt der Kindheit, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 91.
2 Ibid.
3 Engelbrecht, Helmut, Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Erziehung und Unterricht
auf dem Boden Ă–sterreichs, Von 1848 bis zum Ende der Monarchie (=Â
Bd 4), Wien 1986, 147–155.
Mit einem Anteil von 25Â
% behauptete sich die altsprachliche Ausrichtung aber weiterhin.
4 Le Rider, Jacques, »Athen an der Donau« 1800 bis 1900 : Archäologie eines »Erinnerungsortes«,
in : Le Rider, Jacques u.a. (Hg.), Transnationale Gedächtnisorte in Zentraleuropa, Innsbruck 2002,
141–161, 146–147.
5 Über »jugendliche Kulturanarchisten« und »Gymnasiasten« wurde in Folge bewusst nur in der
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359