Seite - 129 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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Galizien
»Dynastien sind also Familien, die jeden Bankrott zu überdauern hoffen«1 –
kann daraus geschlossen werden, dass andere Familien das Leben realistischer
einzuschätzen wussten ? Viertels eigene Herkunftsfamilien, die Familie Klausner
mütterlicherseits und die Familie Viertel väterlicherseits, glaubten in den letzten
Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts durchaus an »österreichischen Illusionen« :
Sicherheit, Aufstieg, Erhalt. In der Hoffnung auf Verbesserung ihrer Lebensum-
stände zogen sie aus Randgebieten des Reiches in die Haupt- und Resi denzstadt
Wien. Mitte des 19. Jahrhunderts waren beide Familien noch im heutigen süd-
lichen Polen, in der weiteren Umgebung von Krakau zu verorten. Sie stammten
damit vorwiegend aus dem habsburgischen Kronland Galizien und Lodomerien,
also aus einer für Berthold Viertel bereits sehr »fremden Welt« im Osten des
Vielvölkerstaates.2
Mit »Galizien« und den ihm zugerechneten »Shtetln« des »Ostjudentums« ist
bis heute ein multiethnischer, rückschrittlich-fortschrittlicher Mythos konno-
tiert, der sich schwer analytisch durchdringen lässt. Zum einen galt dieses Kron-
land als das wirtschaftliche Schlusslicht des Reiches, als kaum industrialisiertes
»Armenhaus Europas«, als das »Sibirien« der Habsburgermonarchie mit hohem
Analphabetismus, stets mit Elend, Schmutz, Hässlichkeit, Barbarei und Welt-
ferne assoziiert. Zum anderen machten seine großen Ölvorkommen Galizien
zum »österreichischen Texas« und Städte wie Lemberg oder Krakau waren
kosmopolitische Zentren.3
Für Berthold Viertel, der den galizischen Ursprungsorten seiner Familie erst-
mals im Ersten Weltkrieg begegnete, hatte einzig der in Ostgalizien geborene
Schauspieler Alexander Granach in seiner Autobiografie Da geht ein Mensch
(1945) dieses Land vorurteilsfrei, ungeschminkt und unbeschönigt, aber auch
liebevoll »in seiner sozialen Realität und religiösen Irrealität erfasst und
wiedergegeben«.4 Aber auch das ist selbstverständlich Teil eines Mythos.
1 Ibid.
2 Hödl, Klaus, Als Bettler in die Leopoldstadt. Galizische Juden auf dem Weg nach Wien, Wien/
Köln/Weimar 1994.
3 All diese Attribute und Topoi werden in der Literatur zu Galizien immer wieder genannt. Vgl. Aus-
stellung »Mythos Galizien«, Wien-Museum in Kooperation mit dem International Cultural Centre
in Krakau (Kraków), 26. März 2015 bis 30. August 2015 ; Doktoratskolleg der Universität Wien
https://dk-galizien.univie.ac.at/kurzbeschreibung/ (zuletzt : 01.12.2016).
4 BV, Alexander Granachs Autiobiographie. Einführung eines ungedruckten Buches, in : Kaiser/Ro-
essler (Hg.), Viertel, Überwindung, 1989,165.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359