Seite - 173 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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Luegers Wien
»Da spürte ich zum ersten Male, dass irgendetwas mit mir nicht ganz in Ord-
nung war. Und dieses hieß : ein Jude sein.«1 – Berthold Viertels späterer Freund,
der Schriftsteller Günther Anders, beschrieb hier eine Erfahrung, die zahlreiche
jüdische Kinder im deutschsprachigen Raum um 1900 in der Öffentlichkeit
machten. Berthold Viertel erfuhr dieses »etwas« 1890 auf dem Weg in die
Volksschule in der Zieglergasse 23 im siebenten Wiener Gemeindebezirk. In
dem Moment, in dem das behütete Kind Berthold allein die gesicherte häusli-
che Umgebung verließ, begannen die Zuschreibungen und ihm wurde (schock-
artig) klargemacht, dass er ein »Judenkind« war. In diesem Erlebnis lagen für
Viertel bereits die Ansätze dessen, »was in dem Österreicher Hitler reif und
welthistorisch wurde« :2
Dass Juden beschimpft und geprügelt werden, weil sie Juden sind, erfuhr ich im Alter
von fünf Jahren auf meinem ersten Weg zur Schule. Ich wurde von großen, ›hepp
hepp‹ rufenden Lümmeln überfallen und auf den Fahrdamm geworfen. Sie zerrissen
meinen Anzug und zerbrachen mir die neuen […] Griffel, auf die ich besonders stolz
war. Ich hatte ihnen, die in der Mehrzahl von vier fünfzehn- bis sechzehnjährigen
Bengeln auftraten, einen vergeblichen Kampf geliefert. Als sie mich heulen und die
Reste meiner Griffel zusammenklauben sahen, verzogen sie sich unter Hohngelächter.
Ich verriet weder in der Schule noch zuhause etwas von dem Vorfall. Der Lehrer ta-
delte mich milde, weil ich gleich am ersten Schultage gerauft hatte und hieß mich
[…], mir Hände und Gesicht zu waschen und die verweinten Augen zu kühlen. Sol-
che Erfahrungen graben sich tief ein. Dass ich sie geheim hielt, kam wohl daher, dass
ich mich ihrer schämte. Auch enthielten sie ein mystisches – oder, sagen wir ein
mysteriöses – Element, das nicht ins ordinäre Tagesbewusstsein passte.3
Das »Tagesbewusstsein« 1890 : Dieser Überfall auf das Volksschulkind fand in
den Tagen der »einem Bürgerkrieg ähnlichen Reichsratswahlen« statt.4 Der in-
novative und charismatische, christlichsoziale Politiker Dr. Karl Lueger erzielte
in den letzten Jahren immer größere Wahlerfolge. Der »Hausmeisterssohn« aus
1 Anders, Günther, in : Schultz, Hans Jürgen (Hg.), Mein Judentum. Selbstzeugnisse, Zürich 1999, 71.
2 BV, Österreichische Illusionen/Der Knabe Robert Fürth, o.D., o.S., NK12, A : Viertel, DLA.
3 BV, Die mir begegnet sind, o.D., o.S., NK17, A : Viertel, DLA ; BV, Die Stadt der Kindheit, in : Bol-
becher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 90.
4 1890 wurde Lueger erstmals in den Niederösterreichischen Landtag gewählt ; in den Reichsrat war
er schon 1885 gekommen und wurde 1891 wiedergewählt.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359