Seite - 209 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
Bild der Seite - 209 -
Text der Seite - 209 -
Familie Adler
Es war noch immer »höchste Pubertät«1, als Berthold Viertel in seinen letzten
Gymnasialjahren Karl Adler – »blondlockig, schlank, von ungewöhnlicher
Schönheit«2 – kennenlernte. Karl war der jüngste, inzwischen weitgehend ver-
gessene Sohn3 des sozialdemokratischen Politikers Victor Adler und besuchte
das nahegelegene Realgymnasium in der Marchettigasse. Mit ihm zusammen
konnte Viertel seinen »jugendlichen Kulturanarchismus« erst richtig ausleben.
Wo und wie die beiden Schüler sich erstmals begegneten, ist nicht bekannt :
»Als sich unsere Wege kreuzten, mussten wir aneinander stoßen«, hielt Karl
Adler viel später in einem Brief an Viertel fest. Er bezeichnete Berthold darin
als seinen »ersten und wohl letzten«, seinen »einzigen« Freund.4 Auch für Vier-
tel war es die erste »große Freundschaft«, die »mächtige Erfahrungen« be-
wirkte :5 »Mein Freund war schön und hochherzig, ich liebte ihn. Er war der
göttliche Beginn. Von ihm sollte eine neue Schöpfung ausgehen.«6
Die Begegnung mit Adler fiel in eine Zeit, in der »das Zuhause«, Berthold
Viertel schon »längst Problem geworden [waren], unhaltbarer Zustand, schiefe
Lage, ein Entarten, Abfallen.«7 Die Eltern sahen in ihrem Sohn »einen hoff-
nungslos Entgleisten, einen zukünftigen Außenseiter der menschlichen
Gesellschaft«8. Und so sah sich Berthold Viertel auch selbst : »Meine Psycholo-
gie war damals zweifellos der eines Verbrechers nur zu ähnlich.«9 Er identifi-
zierte sich mit Mördern, verlorenen »Söhnen« und Ausgestoßenen der Gesell-
1 BV, Die Stadt der Kindheit, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 101.
2 Soyka, Otto, Erinnerungen ans Café Central, in : Lynkeus, Heft 16/17, Frühjahr 1981, 45.
3 Über Victor und Friedrich Adler und ihre Vater-Sohn-Beziehung wurden außergewöhnlich we-
nige Bücher und Studien verfasst, doch noch ungewöhnlicher ist, dass Karl Adler darin kaum zum
Thema wurde. Viel zitiert blieb nur ein Satz, in dem Victor Adler das unterschiedliche Verhältnis
zu seinen Söhnen auf den Punkt bringen wollte : »Der eine [Fritz] ist die Karikatur meiner Tugen-
den, der andere [Karl] meiner Laster.« (Braunthal, Victor und Friedrich Adler, 1965, 276 ; Ardelt,
Friedrich Adler, 1984 und Meysels, Victor Adler, 1997) Gerade über Karls Person öffnen sich neue
Perspektiven auf die Familie Adler und die anscheinend so anarchische, internationalistische und
»gottlose« Sozialdemokratie (BV, Der Mitschüler Hitler, in : Kaiser/Roessler (Hg.), Viertel, Über-
windung, 1989, 127).
4 Karl Adler an BV, 2. Mai 1924, 80.1.424/1, A : Viertel, Salka, DLA.
5 BV, Tod der Lüge, 1. Tagebuchblatt am 5. Juli 1906, 69.3142/1, K28, A : Viertel, DLA.
6 BV, Paris, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 141.
7 BV, Tod der Lüge, 1. Tagebuchblatt am 5. Juli 1906, 69.3142/1, K28, A : Viertel, DLA.
8 Werter, Der Kamerad in : Neues Österreich, 28.11.1954.
9 BV, Die Septima, o.D., o.S., NK09, A : Viertel, DLA.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359