Seite - 99 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
Bild der Seite - 99 -
Text der Seite - 99 -
Moderne in Wien
Um die Grundlagen der Wiener Modernität in ihrer Komplexität und Ambiva-
lenz zu erfassen, stellte Viertel in seinem autobiografischen Projekt als dialekti-
scher Denker zwei »Generationen« einander gegenüber :
Wir erleben zwei Generationen, kurz gesagt : die der Väter und die der Söhne. Im
Allgemeinen sind die Väter diejenigen, die zu erhalten versuchen, die Söhne sind
Revolutionierende und Nihilisten. Aber die Skepsis geht schon von den Vätern aus.
Auch die Väter fühlen sich auf einem verlorenen Posten.1
Generationenzugehörigkeit wurde dabei nicht sukzessiv verstanden oder hatte
etwas mit dem tatsächlichen Lebensalter zu tun. Sie ging im Gegenteil von einer
gleichzeitigen Erfahrung aus, auf welche Akteure unterschiedlich reagieren und
bezog sich also auf die Spannung zwischen jenen, die Änderungen durchführen
wollen, und jenen, die sich für den Erhalt der Tradition einsetzten. Eher pro-
gressive Personen bezeichnete Viertel als »Söhne«, eher reaktionäre als »Väter«.2
Mit solchen Dichotomien zu arbeiten, war und ist in der Analyse Wiens um
1900 keineswegs unüblich.3 Ungewöhnlich ist höchstens, dass Viertel dabei die
für ihn wesentlichen Akteure des kulturellen und politischen Feldes um 1900 als
»Familie« annahm, die man sich bekanntlich – im Gegensatz zu Freunden –
nicht aussuchen kann. In konzeptionellen Listen stellte er etwa die »zerstören-
den Söhne« Kronprinz Rudolf, Erzherzog Ferdinand, Fritz Adler, Karl Adler,
Otto Weininger, Oskar Kokoschka, Gustav Mahler, Adolf Hitler, Wilhelm II.,
Franz Kafka und Franz Grüner den »erhaltenden Vätern« Franz Joseph I., Victor
1 BV, Österreichische Illusionen/Der Knabe Robert Fürth, o.D., o.S., NK12, A : Viertel, DLA.
2 Willer, Stefan, Biographie
– Genealogie
– Generation, in : Klein (Hg.) ; Mannheim, Karl, Das Prob-
lem der Generationen, Köln 1928 ; Scott, David, The Temporality of Generations : Dialogue, Tradi-
tion, Criticism, in : New Literary History, 45/2, 2014, 157–181.
3 Hermann Broch sprach von »Ästhetik und/versus Ethik« (Broch, Hermann, Hofmannsthal und
seine Zeit. Eine Studie, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Paul Michael Lützler, Frank-
furt am Main 2001), Nike Wagner von »Integration und/versus Opposition« (Wagner, Nike, Geist
und Geschlecht. Karl Kraus und die Erotik der Wiener Moderne, Frankfurt am Main 1982), Scott
Spector von »Zentrum und/versus Peripherie«, Allan Janik von »konservativer Moderne und/versus
kritischer Moderne«, James Shedel von »österreichischem Sonderweg und/versus internationaler
Vergleichbarkeit« und Steven Beller von »Fin-de-siècle Vienna und/versus Vienna/Central Europe
1900« (in : Beller (Hg.), Rethinking Vienna, 200).
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359