Page - 48 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

48 Jänner 1872 5 10 15 20 25 30 35 40 Es wird uns ganz wunderbar zu Muthe, wenn wir diese fünf Bücher Beethoven durchblättern. Nicht allein sämmtliche Sonaten (die allerersten vor Op.  1 fallen- den Jugend- und Schülerwerke ausgenommen) finden wir hier, sondern auch Rondos, das schönste und beste aus den Variationenwerken und die mehreren Sammlungen Bagatellen, in denen, wie Plinius sagen würde, „majestas artis in angustum contracta est,“ und welche (besonders die unter der Opuszahl 119 erschei- nenden) völlig den Zauber-Eiern im Feenmärchen gleichen, aus deren engem Raume ganze Wunderwelten von Zaubergestalten hervorwimmeln, wenn die rechte, geweihte Hand sie berührt. Von Opus 2 – in den drei ersten Joseph Haydn gewidmeten Sonaten, bis zur großen C-dur-Sonate (Op.  53) rührt die commentirende Bearbeitung von Sigmund Lebert, unter Mitwirkung von Immanuel Faißt, her. In der That bildet diese riesen hafte Composition und ihre Nachbarin, die große von manchen Verlegern (nicht von der Lebert-Faißt-Bülow’schen Edition) eigenmächtig zur „Appassionata“ gestempelten Sonate in F-moll (Op.  57), für die Claviercompositionen Beethovens so gut einen Wendepunkt, wie die nach der Opuszahl (55) in nächster Nähe dieser gewissermaßen „monumentalen“ Clavierwerke stehende Sinfonia eroica für die großen Instrumentalwerke. Es hat sich denn auch, besonders unter der jüngeren musikalischen „Fortschrittspartei,“ die Ansicht festgesetzt als seien die Clavier- und Orchesterwerke Beethovens, welche Hr. v. Lenz (siehe dessen Beethoven et ses trois styles) dem „ersten Style“ des Meisters zuweist, Arbeiten die eben nur ein Weiterspinnen, wenn nicht eine Palingenesie Mozarts und Haydns; gewisser- maßen musikalische Kinderkrankheiten welche Beethoven erst hinter sich bringen mußte, ehe er – Beethoven wurde. Die musikalisch „Radicalen“ zählen vollends erst von den „Werken der letzten Periode“ an, welche in runder Zahl mit Opus 100 beginnen.* Es ist für gewisse Richtungen in der Entwicklung unserer neuesten Tonkunst verhängnißvoll geworden daß das ganz eigen dastehende endliche Resultat des Schaffens und Ringens einer höchst subjectiven und bis zur größten Schärfe charakteristisch ausgeprägten Künstlernatur (ein Resultat zu welchem selbst Lebensschicksale, wie z. B. Beethovens durch seine Gehörlosigkeit bewirkte geistige Vereinsamung und Versenkung in sich selbst, beigetragen haben!) für die weitere allgemeine Entwicklung und Fortbildung der Kunst Regel und Gesetz werden sollte. Die musikalischen Heißsporne meinten dort anfangen zu müssen wo Beethoven aufgehört. In dieser Beziehung wurde Beethoven für die Musik eine ähnliche und ähnlich verhängnißvolle Erscheinung wie der ihm in so mancher Beziehung geistesverwandte Michel Angelo für die bildende Kunst und Architek- tur. Den Malern und Bildnern die von der Großmacht dieses Geistes mit- und fortgerissen wurden, standen beim Selbstschaffen immerfort das jüngste Gericht, der Moses, die Mediceer-Gräber im Geiste vor Augen, daher denn die Dämono- machien, die Titanenstürze, die herculischen Bildungen in unmöglichen Motiven * In runder Zahl – denn Op. 100 selbst ist ein ganz unbedeutendes Lied „Merkenstein“ – gleichsam ein Holzspan, der, wie manche andere, dem Meister beim Schnitzen seiner großen Götterbilder vor die Füße gefallen, und den er des Auflesens werth achtete.