Page - 99 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

99 März 1872 45 50 55 60 65 70 75 80 85 Zu den Opern des Maestro, bei denen die Bilanz aufs günstigste ausfällt, gehört ohne Zweifel „Lucia di Lammermoor“, die wir im Laufe der letzten Woche von Signor Merelli’s ausgezeichneter Operngesellschaft im Theater an der Wien zwei Mal mit wahrem Genuß gehört haben, und da Sonnabend Verdi’s „Rigoletto“ folgte, so hatten wir auch Gelegenheit, Vergleichungen über die Entwicklung der italienischen Oper seit Donizetti zu machen, Vergleichungen, mit denen der Componist der „Lucia“ keineswegs Ursache hätte unzufrieden zu sein. Gerade die „Lucia“ konnte uns die glänzende Wiener Stagione vom Jahre 1840 zurückrufen, wo Tenore wie Poggi und Moriani, Sängerinnen wie die Tadolini und die Bram- billa das Entzücken der musikliebenden Residenz bildeten. Es herrschte damals ein Enthusiasmus von seltener Uebereinstimmung – selbst der alte, ehrwürdige Kiesewetter, der Patriarch musikalischer Gelehrsamkeit, redete in seiner ruhigen Weise, aber mit warmer Anerkennung von den Italienern. Wie früher, in der Glanzzeit Barbaja’s (1821–1822) der divino maestro Rossini nach Wien in Person kam und für Wien schrieb („Zelmira“), so kam jetzt Donizetti und schrieb Donizetti, dessen „Linda“ und „Maria di Rohan“ eigens für Wien componirt waren. Die deutsche Partei (denn auch diese suchte sich auf ihrem damals verloren scheinenden Posten zu behaupten) nahm sich bei allem dem herzlich unbeholfen. Nach dem Schmetterling Rossini hatte sie mit Keulen geschlagen und C.  M. v.  Webers „Euryanthe“ hatte den nicht ausdrücklich eingestandenen, so doch un- verkennbaren Zweck den Schwan von Pesaro zu rupfen. Weber hatte in Berlin mit seinem „Freischütz“ einen glänzenden Sieg über Spontini und dessen zahlreichen Anhang (zu dem auch E.  T.  A. Hoffmann zählte) errungen – man erwartete in Wien einen ähnlichen Sieg über Rossini und die Rossinianer. Der Schlag ging, wie bekannt, fehl. Zur Zeit des Regime Donizetti begnügte sich die widerwillige Kritik einfach zu schimpfen – allerdings hatte der Maestro damals auch einen Leibrecensenten in Wien, einen gewissen Leone (pseudonym), was den Wiener Musikern Gelegenheit zu einem beißenden Witze gab, den man leicht errathen wird, wenn man sich einer bekannten Aesopischen Fabel de pelle leonis erinnert. Aber auch deutsch todtmusiciren wollte man den guten Gaetano. Wie fünf- zehn Jahre früher Weber mit seiner „Euryanthe“, wurde jetzt Lindpaintner mit seiner „Genueserin“ berufen. Wenn Donizetti kein Rossini heißen konnte, so war Peter v. Lindpaintner noch sehr viel weniger ein C.  M. v.  Weber, sondern k.  würt- tembergischer Hofcapellmeister und seine Musik das, wofür die Wagner’sche Schule den sehr bezeichnenden Namen „Capellmeistermusik“ erfunden hat. Wie früher bei „Euryanthe“, maskirte auch bei der „Genueserin“ stürmischer Applaus am Abend der ersten Aufführung den blanken Durchfall. Trotz des „packenden“ Buches, das uns in die unterirdischen Schreckenskerker des Dogenpalastes zu Venedig führte, und trotz des Aufwandes aller möglichen Mittel in der Partitur behauptete Donizetti mit seiner leichter gefügten, aber glänzenden und lebendi- gen Musik das Feld. Aber merkwürdiger Weise hatte Donizetti gerade mit den von ihm eigens für Wien geschriebenen Opern keineswegs den durchschlagenden Erfolg, wie z. B. mit seiner „Lucrezia Borgia“, „Lucia“ oder dem „Elisir d’amore“, obschon „Linda von Chamouni“ entschieden gefiel und sich auf dem Theater