Page - 105 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

105 März 1872 30 35 40 45 50 55 60 65 sich dadurch theilweise mit Haydn in Concurrenz setze, brauchte ihn nicht zu beunruhigen; was Haydn in seiner „Schöpfung“ bringt, hat eine gründlich andere künstlerische Tendenz, als jene ist, welche Rubinstein in seinem „verlorenen Para- dies“ verfolgt. Er nennt sein Werk auch gar nicht „Oratorium in drei Abtheilun- gen“, sondern „geistliche Oper in drei Acten“. Merkwürdig und sonderbar genug, daß die erste deutsche Oper in Hamburg, mit welcher 1678 das dortige Theater glänzend eröffnet wurde, denselben Gegenstand behandelte, sie hieß „Der erschaf- fene, gefallene und aufgerichtete Mensch“, Text vom kaiserlichen Poeten Richter, Musik von Theile, Ballette von Feuillade. Es gab also dabei auch etwas und sogar viel zu sehen, während wir uns bei Rubinstein mit dem Hören begnügen müssen. Wo man uns „Acte“ verspricht, dürfen wir auch Action erwarten, d.  h. Handlung, wennauch nur in Textesworten angedeutete. Damit sieht es in Rubinsteins Orato- rien- oder Opernbuch eigen aus. Der Wendepunkt des Ganzen, der Sündenfall, kommt gar nicht ausdrücklich vor, sondern wird uns nur durch das Instrumental- vorspiel des dritten Theiles oder Actes in Tönen gemalt (!), aber die lebhafteste Phantasie, und hätte ihr Heine sein „Klangbildertalent“ vererbt, wird schwerlich in Stande sein, aus einem Wechsel von Geigenfigurationen und seltsamen Fagott- accenten den Apfelbaum, die Schlange und das „Eritis sicut, Deus“ herauszufinden. Der Dichter (wenn man ihn so nennen darf) steht nicht einmal auf dem Stand- punkte, daß „eine gebildete Sprache für ihn dichtet und denkt“. Was soll man zu Dingen und Versen sagen, wie wenn wir nach dem Sturze der bösen Engel zu lesen bekommen: Wohl hat der Himmel den Sieg gewonnen, Wie er ihn stets gewinnen wird, Doch schauet auch, was dahin verronnen (!) Mit tiefem Schmerz der treue Hirt (sic). oder: Jubel! Jubel! Höllenjubel! Denn die Hölle hat gesiegt, Wie das nun im bunten Trubel Hin durch alle Welten fliegt. Rein komisch ist es, wenn sich Adam mit den Worten ins Leben einführt: „Wer bin ich?! Wo bin ich?!“ (Cogito, ergo sum, meinte dabei ein Zuhörer.) Da hat es doch der kaiserliche Poet Richter fast noch besser gemacht, wenn er seinen „ge- schaffenen Adam“ ausrufen läßt: O noch nie erblickte Sachen, Die mich ganz erstarren machen, Himmel, Erde, Thier und Meer, Ja, das große Gottesheer, Was bekomm’ ich ins Gesicht? Leb’ ich oder leb’ ich nicht?!