Page - 112 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

112 März 1872 70 75 80 85 90 95 100 105 110 Die antike Welt nahm den Weg zum Göttlichen durch die Natur – in der christli- chen ist es umgekehrt. Das Naturleben heiligt und verklärt sich durch das religiö- se. Will man darauf achten, so wird man die symbolischen Beziehungen zwischen dem Kirchenjahre und dem Kreislauf der Natur im astronomischen Jahre nicht verkennen. Man wende nicht ein, daß auf der südlichen Hälfte unseres Erdballes, ja selbst im hohen Norden unserer Hemisphäre diese Beziehungen verschwinden. Gerade in den Erdstrichen, wo die christlichen Culturvölker (das „Salz der Erde“) wohnen, sind sie vorhanden. Wenn nach der Wintersonnenwende und dem Thomas- Tage mit seiner langen Nacht die Sonne gleichsam neu geboren wird, die Tage zu wachsen beginnen, in jenem Moment des Jahres, wo die alten Germanen ihr Juelfest feierten, fällt das Weihnachtsfest, Epiphania, das Fest der Erscheinung des Herrn. Unser „Christbaum“, welcher jedesmal den Nadelhölzern angehört, deren „dauerndes Grün“, wie sich A. v. Humboldt so schön ausdrückt, „dem Nord- länder andeutet, daß unter der Schnee- und Eisdecke seines Winters das Feuer des Naturlebens fortglüht“, ist, wie bekannt, ein letzter Anklang an jenes Naturfest unserer altgermanischen Urväter. Des Osterfestes dachten wir schon. Und verbindet sich im Frohnleichnamsfes- te nicht ein hohes kirchliches Fest mit einem christlichen Naturfeste? Mit einem Feste, das zugleich die Herrlichkeit des voll aufgeblühten Frühlings feiert? Ein reicher Blumenkranz rahmt die Monstranze ein, Blumenkränze tragen alle Theil- nehmer des großen Festzuges, Blumen schmücken die im Freien errichteten Altäre. In feierlicher Segensprechung wird der göttliche Schutz erfleht „super nos et super fructus terræ“ und es wird um Abwendung von Blitz und Wettersturm (a fulgure et tempestate) gebetet – Beziehungen, die mit dem ursprünglichen Gedanken des Fes- tes, zu dem bekanntlich jenes von Raphael in einem seiner schönsten Frescobilder verherrlichte „Wunder von Bolsena“ den Anlaß gab, nicht eigentlich in Ver bindung stehen. Und wenn der trübste und traurigste der Monate da ist, der November, wenn die Blätter gefallen sind und alle Blumen verwelkt, graue Nebel wie ein Leichentuch den Himmel verhüllen und die ermüdete Natur sich zu ihrem anscheinenden Todesschlaf im Winter bereitet, da schließt das Gedenkfest der Todten, das Allerseelenfest, das Kirchenjahr und es kommt die ernste Adventzeit, als Vorbereitung für Weihnachten und den neu beginnenden Kreislauf. Der Städter zwischen seinen hohen, steinernen Mauern empfindet das alles minder lebhaft als der Landmann, der schlicht und einfach nach dem Glauben seiner Väter hinlebt und mit dem Naturleben, von dem er in seiner Existenz so sehr abhängt, in ununterbrochener Verbindung bleibt. Schon dem Kinde ver- binden sich da die Vorstellungen fast untrennbar. Ich gedenke noch aus den Tagen meiner frühen Kindheit, mit welchem geheimen Schauer ich den heulenden Novemberwind an den langen, bangen, dunkeln Abenden um „Allerseelen“ hörte; er erschien mir wie die Jammerklage der „armen Seelen“. Und aus derselben Zeit gedenke ich gerne eines herrlichen Sommer- und Sonntag-Vormittags; ich stand mitten im blühenden Garten bei meinem väterlichen Hause, neben mir Lilien wie hohe Candelaber mit weißen Lichtflammen und auf den runden dunkelgrünen Büschen die Purpurbälle der Pfingstrosen, es war weit und breit tiefe Stille und nur gelegentlich flatterte ein Schmetterling durch den Garten. Da tönte aus der nahen