Page - 116 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

116 März 1872 250 255 260 265 270 275 280 285 290 Tact- und Tonart einführten, ihre Physiognomie gab, lebt auch in den beiden be- rühmten Oratorien Haydns und ist auch auf Beethoven von größerem Einflusse gewesen, als man insgemein annimmt. Erinnert man sich, daß Händels Oratorien in England entstanden und welche Vorliebe die Reformation dem alten Testamente zuwendete und wie die Reformir- ten in Britannien sogar die israelitischen Stammtafeln mit ihren fabelhaft klingen- den Namen für ihre eigenen Vor- und Taufnamen in Requisition setzten – so be- greift man, warum Händels Oratorien fast sämmtlich auf die Verherrlichung alttestamentarischer Helden hinauslaufen – und sieht man den inneren Zusam- menhang der Oratorien Haydns mit jenem Zuge seiner Zeit, so erstaunt man, wie sich sogar die hohe und strenge Gattung des Oratoriums den eben herrschenden Geistesströmungen nicht entziehen kann. Erheiternd ist es zu sehen, wie Haydns Textdichter bei den „Jahreszeiten“ in sichtlicher Verlegenheit war, der conventio- nellen Färbung des Oratoriums gerecht zu werden. Zum Schlusse des Frühlings entpuppt sich der biedere Landmann Simon plötzlich als Pantheist: „Was ihr fühlet, was euch reizet, ist des Schöpfers Hauch“ – was sofort zum Stichwort für Lob- und Preisgesänge im herkömmlichen Oratorienstyle wird. Im „Winter“ ge- räth Simon gar aufs jüngste Gericht, Hannchen und Lucas und sämmtliche Bau- ernschaft fängt an, in Psalmenstellen zu singen u. s. w. Beethoven verhält sich zu Haydn ungefähr wie Goethe und Jean Paul zu Haller und Kleist. Gewisse Compositionen Beethovens (der jenes Buch Brockes’ besonders liebte) sind eine merkwürdige Mischung höchsten religiösen Sinnes mit der reinsten und höchsten Freude an der Natur – dahin gehört z. B. das feierliche, von Ahnungen der Ewigkeit durchzitterte „Abendlied unter dem gestirnten Himmel“ – dahin gehört der „Wachtelschlag“. (Frage: sollte dieser nicht gelegentlich als „Offertori- um“ mit Erfolg in der Kirche zu singen sein?!) Das Höchste bleibt die Pastoralsym- phonie. Zur Zeit, als sie erschien, war die wohlweise Kritik, wenn sie von etwas „Pastoralem“ hörte, noch so sehr von der Vorstellung einfältiger Geßneriaden be- herrscht, daß damals ein Kritikus schrieb: „Hier ist jenes Arkadien, von dem Itali- ens und Spaniens Dichter so zauberisch singen.“ Ein Ausspruch dieser Art verdient unter die ineptissime dicta für alle Ewigkeit registrirt zu werden. Die Pastoralsym- phonie bleibt eines der staunenswerthesten Beispiele, wie und inwieweit es mög- lich ist, in Tönen zu dichten. Satz entwickelt sich hier aus Satz; mit der auf- athmenden Freude, aus dem Häusermeere der Stadt in Feld und Flur entflohen zu sein, beginnt der Tondichter, und höher und höher geht es, bis es mit den höchsten Gedanken schließt, die der Mensch denken mag – den Wendepunkt bildet das Gewitter (als Tonmalerei ein wahres Wunderwerk, aber ebenso als bloßer Tonsatz herrlich). Wie man mit Tönen nicht dichten soll, zeigte uns recht anschaulich das Stück, das wir unmittelbar vor der Pastoralsymphonie hörten – Liszts „Préludes“. Daß ein so geistvoller Mensch wie Liszt sich einfallen lassen konnte, jene ge- schraubt geistreiche oder vielmehr hohl schönrednerische Meditation Lamartine’s einfach und blank in Musik übersetzen zu wollen, ist nur durch die confusen Ansichten erklärlich, welche damals über das für die Musik Mögliche und Zuläs- sige herrschten. Wie hilft sich nun Liszt? Er malt alles wörtlich und buchstäblich,