Page - 123 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

123 April 1872 10 15 20 25 30 35 40 45 50 ihre Feder bei Seite legen dürfen und im Stillen dem Himmel danken, daß sie nicht etwa auch die Sologesänge der Vögel und die Chöre der Frösche vor ihren kritischen Richterstuhl zu ziehen braucht. Indessen haben wir einstweilen noch hinlängliche Hoffnung etwas Musik zu genießen, ehe der wunderschöne Monat Mai kömmt, in welchem nach Heine alle Knospen springen. Das letzte außer- ordentliche Gesellschaftsconcert bringt uns Schumanns Faust-Musik, Rubinstein kündigt ein Abschiedsconcert mit höchst bedeutendem Programm an, der Harf- ner Herr Aptommas wird sich, unterstützt von sehr namhaften Mitgliedern der Hofoper und der eben hier weilenden italienischen Operngesellschaft, gleichfalls noch einmal hören lassen. Und wer weiß, was Musikalisches noch alles „in der Zeiten Hintergrunde schlummert“. Trotz dieses reichen Segens an Musik haben wir aber, wenigstens für diesmal, nicht eben über Vieles zu berichten. Die Italiener haben die „Traviata“ (bisher ihre Glanzvorstellung) und die „Linda“ wiederholt; mit welchem Erfolg, zeigt der verhängnißvolle Passus der Affiche: „Logen und Sperrsitze sind vergriffen“ – lasciate ogni speranza. Aber auch einen Verlust, und einen recht herben, hat die Gesellschaft erlitten: – Signor Nicolini, der in Wien soeben im Sturm sämmtliche Herzen erobert hatte, ist einem Rufe nach London gefolgt, um auch dort eine gleiche Eroberung zu machen, auch wohl, um (wie weiland Mattheson von Farinelli sagte) „den übervollen englischen Geldbeuteln einige Erleichterung zu verschaffen“. Sein Nachfolger Signor Corsi mag zusehen, wie er ihn ersetzt. In aller anspruchslosen Bescheidenheit durchaus erfreulich war das dritte Concert der Wiener Singakademie unter der Leitung des Herrn Rudolf Wein- wurm. Was aber so gewinnend, so eigen angenehm anregend wirkte, war der Um- stand, daß durch das ganze Concert der echte Geist wahrer Kunst zu spüren, daß die Wahl der Stücke eine glückliche und die Lust und Liebe der Mitwirkenden unverkennbar war. Mochte dieser Chor vortrefflich und tadellos gesungen werden, ein anderer irgendeine Kleinigkeit zu wünschen übrig lassen – auf solche halbe Zufälligkeiten kommt es bei dem guten Zug und Gang des Ganzen nicht weiter an. Von den beiden Abtheilungen des Programms repräsentirte die erste vor- wiegend geistliche Musik, die zweite war „weltlich“. Den Anfang bildete das all- bekannte, schöne, einfach edle Adoramus, welches überall als Composition Palestrina’s gesungen wird, aber nicht dem großen Pierluigi, sondern seinem Geis- tesverwandten und Nachfolger im Amte, dem herrlichen Felice Anerio gehört. Von Palestrina existirt echt ein einziges und anderes Adoramus. Proske hat, unter Hinweisung auf die unschätzbaren Altemps’schen Musikcodices im Collegio romano zu Rom, den Irrthum längst aufgeklärt – es wäre Zeit, die Composition ihrem richtigen Eigenthümer zurückzustellen, so gut wie das dreichörige Stabat mater, welche Baini als eines der Hauptwerke seines angebeteten Palestrina enthusiastisch preist, das aber mit beinahe apodiktischer Gewißheit gleichfalls Felice Anerio zuzusprechen ist – beiläufig gesagt ein Werk, dessen sehr gelungene Aufführung im vorigen Jahre zu Prag Sensation machte. Ich erlaube mir, die Singakademie für künftige Zeiten darauf aufmerksam zu machen. Hätte Hermannus Contractus sein Salve Regina gehört, welches als Tenorsolo mit Chor dem Palestrina-Anerio’schen folgte: der Mönch, Graf und große Gelehrte