Page - 133 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

133 April 1872 105 110 115 120 125 130 135 140 145 sagen muß. Von dem Schöpfer der herrlichen „Manfred“-Ouverture durften wir eine würdige Ouverture zu „Faust“ erwarten – tadelt er doch Radzivil wegen des Einfalls, seine „Faust“-Musik mit der orchestrirten C-moll-Fuge Mozarts einzu- leiten – wir haben also das volle Recht von ihm hier etwas noch Besseres zu ver- langen. Ist aber jenes Instrumentalvorspiel Schumanns auch nur einfach ein inte- ressantes Tonstück, geschweige denn eine „Faust“-Ouverture, oder ist es ein reines Garnichts, aus dessem vagem Herumfluctuiren kein einziger hörenswerther musi- kalischer Gedanke auftaucht? Die Gartenscene trifft Sinn und Betonung der Worte allerdings ganz gut, aber Schumann steht hier am Ende doch nicht höher als ein verläßlicher Diener, der den Auftrag, welchen ihm sein Herr gegeben, getreulich ausrichtet. Gretchen vor der Mater Dolorosa reicht nicht an Löwe’s bescheidene und doch so tief ergreifende Composition. Das Dies iræ der Domscene (dazu gehört Musik!) packt sogleich, aber es drängt sich auch mit seinen Chor- und Orchestermassen störend in die Reden Gretchens und des bösen Geis- tes hinein, die hier übrigens beide auch singen – die leise Stimme des Gewissens, denn das ist der böse Geist, muß, während der Chor rücksichtslos fortsingt, aus vollem Halse schreien, um nur gehört zu werden. Die grandiös disponirte Scene schließt mit den (gesungenen) Worten: „Nachbarin, euer Fläschchen!“ Goethe dachte sich’s anders und besser. Aus der Tiefe und Halbnacht des alten romani- schen oder gothischen Domes, wo Gretchen vom bösen Geist geängstigt betet, soll der Gesang nur so halb stark und wie von ferne herüberklingen, am besten die uralte Sequenzmelodie des Dies iræ im Einklange mit Orgelbegleitung gesungen, und darnach „Orgelton“ als Nachklang. Tomaschek hat dieselbe Scene componirt und der Versuchung eben so wenig widerstanden, ein solennes Figuralrequiem anzubringen; sein Gretchen singt auch in Recitativ: „Nachbarin“ u. s. w. Der Elfenchor der zweiten Abtheilung hätte von einem Meister wie Schumann etwas mehr erwarten lassen, als hier geboten wird. Fausts schon erwähnter Mono- log entzieht sich der Musik – es ist kein Wunder, wenn Schumann hier keine ge- funden hat. Der Scene mit den vier grauen Weibern haben wir schon gedacht, jene der Lemuren steht im Guten und Geringen auf gleichem Niveau. Vortrefflich malt die Musik die „neckischen Geberden“ der grabenden Halbgespenster. Faust und Mephisto singen leider wieder, statt (etwa mit melodramatischer Begleitung) zu sprechen. Mit der dritten Abtheilung ist es plötzlich, als sei Schumann aus einem schweren Zauberschlafe erwacht und richte sich mit der ganzen Macht seines Geistes auf. Schon die Anachoreten-Landschaft „Waldung, sie schwankt heran“ wird musikalisch zu einem förmlichen Poussin’schen Bild; es ist erstaunlich, daß die Musik durch bloßes Wecken der entsprechenden Stimmung dergleichen zu prästiren vermag. Der Pater ecstaticus, der Pater profundus mit dem tiefsinnig meditirenden Ton, der Pater Seraphicus, der ganz milde Vaterliebe ist, der Doctor Marianus mit seiner visionären und dabei still-seligen Begeisterung, die Chöre der seligen Knaben, der Engel, die drei Büßerinnen und Gretchen als vierte – das alles ist wunderbar charakteristisch gegeben und von hinreißender Schönheit. Ergrei- fend ist der Moment, wo des Doctor Marianus Rede zum harfenbegleitenden Hym- nus wird, rührend sein milder Blick auf die Büßerinnen „Gnade bedürfend“. Der Einfall, nach den hellen Sopranstimmen der Maria Aegyptica, Gretchens u. s. w.