Page - 157 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

157 April 1872 100 105 110 115 120 125 130 135 140 buch freilich an dem entgegengesetzten Fehler leidet und uns bei der Ueberfülle von Handlung rasch wechselnde Scenen guckkastenartig vor Augen führt. So gut wie Weber dort den ganzen Mährchenzauber des Orientes in wunderbar glänzen- den Farben zu entwickeln wußte, würde es ihm vielleicht auch hier gelungen sein. Und Rubinstein? Er hat wohl an dergleichen gedacht, Manches mahnt an seine „persischen Lieder“ – und der Gesang des Muezzin „Allah il Allah, Mahomet razu il Allah!“ ist sogar das echte orientalische Motiv, wie wir es durch Villoteau ken- nen. Aber trotz alledem verlassen wir unseren kühleren, minder farbigen Occident keine Minute. Sehen wir uns in dem breit angelegten Tonwerke nach den glück- licheren Momenten um, so dürfen wir vor allem Anderen den Schluß des ersten Actes nennen. Jener Gesang des Muezzin, dem der Chor mit einer Art Psalmodie antwortet, das zwischen die Redesätze (geistlichen und von Seite Fadladins stellen- weise stark weltlichen Inhalts) immer wieder hineintönende „Allah il Allah“ des Chores hat etwas Ergreifendes. Nur hätten die frommen Mahometaner beim Gebet nicht niederknieen sollen, das ist gegen alle mahometanische Kirchen- ordnung. Der Gesang der Prinzessin im zweiten Act „O heil’ge Nacht“ nimmt in seinem Verlaufe einen heiß leidenschaftlichen Zug an und die Scene zwischen Feramors und Lalla-Roukh, eine Scene, auf welche das Hauptgewicht des ganzen Werkes fällt, die wechselseitige Erklärung der Liebe, das aufflammende Entzücken der Liebenden – das alles hat den Componisten erwärmt; in anderer Umgebung wür- de diese Nummer ganz anders wirken; leider sind wir aber schon durch das Vor- hergehende zu abgespannt und zu verstimmt, um uns dem Eindrucke hingeben zu können. Die unmittelbar vorhergehende, sehr lange und gar nicht kurzweilige Scene zwischen Fadladin und Hafisa wirkt ganz besonders ermüdend. Mit diesem Fadladin hat der Dichter des Textes offenbar eine grotesk-komische Figur im Sinne gehabt, etwas dem Osmin Mozarts Aehnliches, doch etwas minder derb, denn ein indischer Großvezier, selbst wenn er eine grotesk-komische Figur sein sollte, wird sich doch wohl etwas anders benehmen als der bloße Gartenaufseher eines Pascha. Aber wenn der Großvezier Kara Mustapha zehn Minuten, ehe er strangulirt wurde, genau so gesungen hätte wie hier der Großvezier Fadladin, so würde es uns gar nicht Wunder nehmen. Der Componist macht auch nicht den leisesten Ver- such den im Texte komischen Fadladin auch mit komischer Musik zu illustriren, und so ist denn Fadladin durchaus nicht komisch, sondern einfach langweilig. Die Ballade, welche Feramors im ersten Acte singt: „Das Mondlicht träumt auf Persi- ens See“, hat einzelne schöne Züge, der Componist malt die 62 Verse (wenn man diese ungleichen Gebilde anders Verse nennen darf) lange Erzählung Vers nach Vers, Bild nach Bild gewissenhaft und liebevoll aus – eben deßwegen ist aber dieses Stück ganz unglaublich zerfahren und einheitslos ausgefallen und wenn Lalla- Roukh dem Sänger das Compliment oder Geständniß macht: „Das Lied, das du gesungen, hat wie Zauber mich durchdrungen“, so werden wir kaum geneigt sein, in ihren Beifall mit einzustimmen. Was soll man aber zu Hafisa’s Gesang im dritten Acte sagen: „O lieber Schleier, so leicht und fein“? Ist es möglich, daß ein Mann wie Rubinstein so etwas hinschreibt, ohne daß ihn der Genius warnend beim Aermel zupft? Und wie ist es möglich, daß ein Componist, dessen Instru-