Page - 170 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

170 Mai 1872 90 95 100 105 110 115 120 125 130 hinträllert. Daß eine Oper kein Conditorladen sein soll, in dem man nach Belie- ben herumnascht, sondern ein organisches, lebendes Ganzes, dessen Theile eben zusammen das Ganze, Lebende bilden und wo das einzelne „Motiv“, aus dem Zusammenhange des Ganzen losgetrennt, eben so viel werth ist als die abgeschla- gene Nase einer schönen Statue, das alles haben die Habitués der Oper lange nicht einsehen wollen. Wagner hat sie gezwungen, es endlich einsehen zu müssen. Daß schon wieder „Potpourris aus den Meistersingern“, „Phantasien über Motive aus Lohengrin“ u. s. w. auf dem Musikmarkte zu erscheinen anfangen, kann Wagner nicht zur Schuld gerechnet werden – der Theaterdirector im Vorspiele des „Faust“ behält am Ende immer Recht, daß, wer ein Ganzes bringt, darauf gefaßt sein muß, es in Stücke gerissen zu sehen. Die zwingende Gewalt der Tondichtungen Wagners, die unter Anderem das Wunder der Wunder bewirkt hat, daß „Lohengrin“ in Italien den vollständigsten Triumph feierte, liegt vor allem in Wagners künstlerischer Ehrlichkeit. Als ihm sein „Rienzi“ die Dresdener Hofcapellmeisterstelle eingetragen, konnte er, wie so viele Andere, ruhig und behaglich auf dem reichgepolsterten Capellmeisterstuhle seßhaft bleiben und eine Capellmeisteroper (siehe Lindpaindtner, Reissiger – sogar Spohr) nach der anderen in die Welt senden. Aber je tiefere Blicke er in das Wesen seiner Aufgabe als dramatischer Componist warf, um so deutlicher trat ein anderes Ideal vor seine Seele. Er selbst hat über den Scheideweg, an dem der Operncompo- nist als wahrer Hercules in bivio steht, bedeutende Worte gesagt: „Nach zwei Seiten hin hat sich das Wesen der Musik in dem Kunstgenre der Oper entwickelt: nach einer ernsten – durch alle die Tondichter, welche die Last der Verantwortung auf sich fühlten, die der Musik zugetheilt war, als sie die Absicht des Drama’s für sich allein übernahm, – nach einer frivolen – durch alle die Musiker, die, wie von dem Instinct der Unmöglichkeit der Lösung einer unnatürlichen Aufgabe getrieben, dieser den Rücken wandten und, nur auf den Genuß des Vortheils bedacht, den die Oper einer ungemein ausgedehnten Oeffentlichkeit gegenüber gewonnen hatte, einem ungemischt musikalischen Experimentiren sich hingaben.“ (Wagners gesamm. Schriften, 3.  Band, S.  290). Daß Wagner gleich in seinen frühesten ope- ristischen Leistungen den ersten Weg gegangen, wird niemand verkennen dürfen, wenngleich auch er mit seinem „Liebesverbot“, seinen „Feen“ – ja mit „Rienzi“ und dem „Holländer“ vorläufig „experimentirte“ – er that es wirklich nur, um als musikalischer Pfadfinder den rechten Weg zu finden. Der Weg, den er fand, führ- te ihn weiter und weiter und endlich, ich wage es zu sagen, zur Ehre eines nicht mehr der Sterblichkeit angehörigen Namens. Aber er drang weiter, weiter – was er gefunden, erstrebt, erreicht, genügte ihm noch immer nicht, der Faust-Zug, der in ihm steckt, wirkte fort – und seine Freunde und Bewunderer aus der besonnenen Classe mußten endlich besorgt an die certi denique fines denken. Möglich, sehr möglich, daß die Abende in Bayreuth diese Besorgnisse glänzend widerlegen wer- den. Der freudigsten Zustimmung kann der Dichter der Nibelungen-Musik dann gewiß sein. Es scheint übrigens doch, als habe Wagner mit seiner Nibelungen- Musik die letzteste Grenze des ihm selbst Erreichbaren berührt und als liege da- rüber hinaus ein Gebiet, wo ihm selbst der Athem ausgehen müßte. Wir wollen also das Weitere in stillem Harren abwarten.