Page - 171 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

171 Mai 1872 135 140 145 150 155 160 165 Die Frage: wie Wagners Erscheinung auf die weitere Entwicklung der Tonkunst wirken werde, ist zur Zeit eine offene. Einstweilen haben wir durchaus keine Ur- sache, über die kleinen Nach-Wagners, die schon da und dort auftauchen, sonder- lich entzückt zu sein. Sie steuern mit vollen Segeln im Namen „höherer Intentio- nen“ auf Formlosigkeit und Willkür los. Sie mögen aber von Wagner das lernen, was das Erste und Wichtigste ist: jene künstlerische, rückhaltlose Ehrlichkeit. Wagner als Original, Wagner als Wagner bleibt eine der größten Erscheinungen der Kunstgeschichte – verwagnerter Manierismus schwacher Nachtreter, Nach- beter und Nachahmer wäre der Tod, das Ende aller Musik. Aber die Musik hat ein sehr zähes Leben. Sie hat als Musik (nicht als der Poesie beigemischtes künstlerisches Corrigens) gegen die Florentiner von 1600 und hernach wieder gegen Gluck ihren Pflichttheil als selbstständige Kunst angespro- chen und siegreich errungen. Musicam furca expellas, tamen usque recurret. Sie wird auch hoffentlich gegen das, was bei Wagner Einseitigkeit und, gestehen wir es, für den Augenblick berechtigte Einseitigkeit ist, in der Folge eben auch wieder be- haupten, was ihr, als Musik, von Gott und Rechts wegen gebührt. Ich habe dieser Tage von einem hochverehrten musikalischen Freunde, einem der edelsten Künstler unserer Zeit, einen Brief erhalten, welcher eine merkwürdige Stelle enthält, die hier mitzutheilen ich mir nicht versagen kann: „Wie haben sich die Verhältnisse (der Musik) seit einigen dreißig Jahren verändert! Solche unver- mittelte Umwälzungen sind noch nie dagewesen – entweder vernichtet sich die Musik nächstens selbst oder es wird der Gewinn früherer Culturepochen für lange hinaus absolut in Frage gestellt; eine Alternative, die allerdings haarsträubend ge- nug ist. Leider scheint der schönen Tonkunst ein Geschick, das auch ihre Schwes- tern traf, nicht erspart bleiben zu sollen; sie muß erst, nachdem sie den Höhepunkt erreichte, eine Periode tiefsten Dunkels, in der man ihr theilnahmslos und über- sättigt den Rücken kehren wird, verträumen, bevor sie zu neuen und dauernden Ehren gelangen kann. Nach meiner Ansicht gehen wir dieser Krisis mit Windes- eile entgegen und erleben vielleicht noch ein Stück derselben. Sollte diese An- schauung gar zu pessimistisch gefärbt sein, so will ich mich gerne bescheiden.“ So weit mein werther Freund. Ein solcher Warnungsruf sollte, wie ich meine, von den Progressisten der äußersten musikalischen Linken nicht überhört werden. Ob wir einer völligen Auflösung der Musik oder nach einem kritischen Durchgangs- punkte einer bedeutenden Neugestaltung derselben entgegengehen, das vermag mit Sicherheit allerdings keine menschliche Voraussicht zu bestimmen. Erläuterungen 23 lernäischen … Vergangenheitsschlange] In der griech. Mythologie eine schließlich von Herkules getötete Wasserschlange mit vielen Köpfen, die nachwuchsen, wenn sie abgeschlagen wurden. ◼ 29–31 Moriz v. Schwind recitirte … nichts dafür.“] „Der Esel ist ein dummes Tier, / Der Elephant kann nichts dafür.“ – Fibelvers aus dem von Wilhelm Busch gezeichneten „Naturgeschichtlichen Alphabet“, in: Fliegende Blätter (1860), Bd.  33, Nr.  784, S.  12. Moritz von Schwinds Abneigung gegenüber der Musik Wagners wird u. a. in Schwinds Briefen dokumen- tiert, in denen er sie als „Blödsinn“ und „Eseleien“ bezeichnet. Vgl. Moritz von Schwind. Briefe, hrsg. von Otto Stoessl, Leipzig 1924, S.  420 und 422. ◼ 39 „Alexander-Festes“] Händels