Page - 193 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

193 Mai 1872 80 85 90 95 100 105 110 115 120 hinbrütenden, stets in eine Vorstellung befangenen Wahnsinns, der hier, wie sich Gumprecht ausdrückt, „zu präludiren beginnt“. Zu den kleinen Tongedichten ohne Worte mit andeutenden Ueberschriften mag sich Schumann gerade durch diese Seite und Eigenheit Schuberts angeregt gefühlt haben. Die Impromptus, moments musicals und ähnliche Stücke von Schubert, denen er allerdings keine besonderen poetisirenden Titel zu geben fand, sind überhaupt die Vorläufer der einen Theil des besten Modernen bildenden pianistischen Kleinkunst, man fühlt sich oft direct an Mendelssohns Lieder ohne Worte, Schumanns Noveletten u. s. w. erinnert – im Grunde ahnte aber schon der gewaltige Beethoven diese Richtung, denn wohin gehörten denn sonst die drei Sammlungen sogenannter „Bagatellen“ – dieser köstlichen kleinen, zu wenig gekannten und beachteten Tonpoesien. Wäre Midas nicht gerade auf dem Gebiete der Musik (als Criticus) und durch die Decoration, durch welche ihn Apoll auszuzeichnen geruhte, so schlimm berüchtigt, so möchte man sagen: so wie sich Alles, was der phrygische König berührte, in Gold verwandelte, so verwandelte sich bei Schubert alles von ihm Berührte in Musik – in die schönste, frischeste, ursprünglichste. Der unerschöpf- lich strömende Quell musikalischer Erfindungskraft in Schubert hat kaum je sei- nesgleichen gehabt – unsere Zeit, die in Sachen der Musik so viel Geist und Bil- dung und (ganz im Vertrauen gesagt) so blutwenig Invention besitzt, mag über eine solche Begabung wohl erstaunen. Denn, um es ehrlich zu sagen, wir leben, wie es scheint, nach den musikalischen sieben fetten Jahren der Bach-Zeit, Mozart- Zeit u. s. w. nunmehr in den sieben mageren (denn einzelne, allerdings herrliche Epigonen, wie Robert Franz, machen so wenig ein musikalisches Aevum, wie eine letzt zurück gebliebene Schwalbe den Sommer zurückzuhalten vermag). Und bei dieser Hungersnoth zehren wir dann an den reichen Vorräthen, welche uns jene glücklichere Epoche aufgespeichert hat, „und so groß war der Ueberfluß, daß er dem Sande am Meere verglichen wurde und vor Menge nicht mehr genossen wer- den konnte“. Diese Bibelworte mögen buchstäblich auch für die Musik gelten, denn würde z. B. nicht J.  S. Bach allein ausreichen, das Studium eines ganzen Menschenlebens auszufüllen? Und nun Schubert selbst, dessen Reichthum ganz unerschöpflich scheint? Ist es doch, als sende er uns durch Buchhändlergelegenheit aus dem Jenseits ein neues Manuscript nach dem anderen. Und was würde er, der schon zur „Euryanthe“ bedenklich den Kopf schüttelte, weil er die Mühe des Machens herauszufühlen meinte, er, dem sich jedes gelesene, ihn ansprechende Gedicht sofort und augenblicklich zum musikalischen Kunstwerke gestaltete, der im Stande war, eine seiner anmuthigsten Schöpfungen, das „Morgenständchen“, in Ermanglung von Notenpapier auf die Rückseite eines Speisezettels nieder- zuschreiben – was würde er sagen, wenn er sähe, wie das freie, freudige Schaffen aus der Welt verschwunden scheint und Alles der Phantasie mit Hebeln und Schrauben abgezwungen wird? Wer aus der Kunstgeschichte ein Bild der mit unsinniger Verschwendung der Mittel arbeitenden, die Größe in Schwulst, Augenblendung und Masseneffecten suchenden und hinwiederum stumpf und roh gewordenen Kunst der späteren römischen Kaiserzeiten, also ein Bild der nach glorreichster Blüthe im Untergange begriffenen antiken Kunst gewonnen hat, der kann auf den Zustand der jetzigen