Page - 194 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

194 Mai 1872 125 130 135 140 145 150 155 160 165 Musik nur mit Schmerz blicken. – Die Verhältnisse haben sehr viel Analoges. Wir sind am Ende, und das ist relativ noch das Erfreulichste, in ein alexandrinisches Zeitalter gerathen: die Musikforschung, historisch und theoretisch, hat einen früher gar nicht geahnten Aufschwung genommen; im Musikschaffen ist jene unsinnige Verschwendung der Mittel, ist jener Schwulst die Augenblendung bei innerer Stumpfheit und Rohheit da, und man kann sich der Besorgniß nicht er- wehren, daß die Musik einer völligen Barbarisirung entgegengeht. Freilich hören wir hunderttausend Stimmen Hosiannah singen, „wie wir’s zuletzt so herrlich weit gebracht“. Ist doch Beethoven für gewisse Leute nur noch „der große Vorgänger (!) Wagners“. Irre ich nicht, so ist es Carus, der irgendwo von geistigen Epidemien spricht, welche gleich anderen Epidemien ansteckend wirken und ganze Volks- massen ergreifen – wobei der Autor auf den plötzlichen Wandertrieb ganzer Völker, auf das Deus le volt der Kreuzfahrer, die Flagellantenzüge, den Veitstanz u. a. m. hinweist. Man wird vielleicht künftig von einer Wagneromania epidemica spre- chen, die in den Jahren des Heiles 1868 bis –? – grassirte, und eine die Nerven überreizende, Nerven zerstörende Eigenschaft der Wagner’schen Musik hat vor einigen Jahren ein Arzt in einem die Nervenkrankheiten behandelnden Buche in allem Ernst behauptet. Vielleicht nicht so ganz mit Unrecht! Der echteste Anti- pode davon ist Joseph Haydn, den die Wagnerianer auch in der That wie die Sünde hassen und vielleicht noch mehr. Es giebt kaum eine Musik, die so nervener- frischend gleich einem sonnigen Maimorgen wirkt, wie Joseph Haydns Musik. Joseph Haydn aber ist, wenn nicht der Vater, so doch der Großvater Schuberts. Ueber den Genuß einer Trilogie oder Tetralogie, wie sie jetzt in Bayreuth ver- wirklicht werden soll, schrieb schon 1854 der ehrliche, körnige, tüchtige, durch und durch geistesgesunde Moritz Hauptmann an Franz Hauser: „an den Nibelun- gen zweifle ich noch, vier Abende nach einander in dieser Luft, das hielte doch wohl außer Brendel und Hoplit niemand aus“. (Siehe 2.  Band der Briefe, S.  120.) Nun, der alte, brave Thomaner Cantor ist durch den Tod dieser Gefahr entrückt worden und auch an Brendel kann aus gleicher Ursache das Experiment nicht mehr gemacht werden. Sie sind aber zu entbehren, denn da Wagners Angelegen- heit von der deutschen Sache nicht mehr zu trennen ist (ein Glück, daß „Lohen- grin“ in Bologna gefiel, sonst wäre vielleicht im Namen der „deutschen Sache“ dem Regno d’Italia wohl gar der Krieg erklärt worden!), so ist an Zudrang und Begeis- terung nicht zu zweifeln. Vielleicht zählen wir, da ja das Ganze eine Regeneration der olympischen Spiele sein soll, die Zeit künftig nach Bayreuthiaden, wie die Griechen nach Olympiaden: „im dritten Jahre der zwölften Bayreuthiade geschah es, daß u. s. w.“ Jedenfalls würden wir vorläufig rathen die Stelle historischen Handkusses in conspectu populi, von dem uns die Nachrichten aus Bayreuth er- zählt haben, mit einer Inschrifttafel von Marmor für die Nachwelt zu bezeichnen. Wahrlich, man mag noch so billig, noch so gerecht denken: wer die Musik mit ihren unendlichen Schätzen nicht in Frage gestellt, ja dem baren Verderben und Untergange preisgegeben sehen will, der muß sich endlich diesem Treiben ganz entschieden entgegenstellen. Ob man deßwegen ein klein wenig gesteinigt oder verbrannt wird, darf dabei nicht weiter in Frage kommen. Und wie einst die Mys- tiker, ein Tauler, Suso, Thomas a Kempis, zur Zeit, als das Schisma die Kirche in