Page - 218 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

218 Juli 1872 15 20 25 30 35 40 45 50 55 Musendienste, am Ende doch Kaufmann, ein Kaufmann müsse auf Absatz der Waare rechnen u. s. w. Ehre also dem wackeren Gotthard, der selbst talentvoller und geschmackvoller Tonsetzer ist, wenn er uns Novitäten bringt, bei denen augen blicklicher großer Absatz kaum zu erwarten, denen aber hoffentlich ein um so längeres Leben und nachhaltigere Wirkung beschieden ist. Man hat (aber schwerlich ganz treffend) gesagt, Tobias Haslinger habe an Tanzmusik gewinnen müssen, was er an Beethoven verloren – welche Goldquelle aber Beethoven heut- zutage ist und wohl bleiben wird, wissen die Musikhandlungen am besten. Gott- hard bringt uns zwei Sonaten für das Pianoforte von Wilhelm Speidel (Professor in Stuttgart, nicht zu verwechseln mit seinem in Wien lebenden Bruder, dem geist- vollen, gründlich gebildeten, allgemein geachteten Musikschriftsteller), op.  46, die eine in C-moll, die andere in A-dur, wahrhaft schön, echt und gediegen alle beide, – so schön, daß ich zu behaupten geneigt bin, sie seien seit Schuberts und Schu- manns Klaviersonaten das Beste, was in diesem Genre neu erschienen, einem Gen- re, das heutzutage zur Ungebühr vernachlässigt wird, obschon die größten Meister gerade in dieser Form zuweilen selbst das Bedeutendste, das sie zu sagen wußten, ausgesprochen haben. Das Publicum hat mit den ewigen Kleinigkeiten für’s Pi- anoforte, diesen ewigen Romanzen, Notturnos, Impromptus, Liedern ohne Wor- te, Charakterstücken mit und ohne charakterisirende Ueberschriften u. s. w. bei- nahe die Lust und Fähigkeit verloren, den drei oder vier Sätzen einer Sonate mit Aufmerksamkeit und Antheil zu folgen. Von Speidels beiden Compositionen hat die C-moll-Sonate einen mehr männ- lichen, energischen, die A-Dur-Sonate mehr einen weiblich anmuthigen Charak- ter, die Technik ist die moderne, der Geist der alte, echte, ewige. Beide bringen stellenweise höchst reizende Klangwirkungen, welche von einer seltenen Kenntniß des Instrumentes Zeugniß geben. Und, dem Himmel sei Dank, Motive sind da, wirkliche Motive, Melodien, schöne, gesangvolle Melodien – nicht bloße Phrasen oder allerlei verdrehtes, fingerquälerisches Passagenwerk, wie es in neueren Kla- viersachen so oft Motiv und Melodie vertreten und ersetzen soll. Beethoven und fast noch mehr Franz Schubert sind die Numina, welche Speidel zumeist verehrt. So klingt das prächtige Rondo der C-moll-Sonate völlig an Schuberts Weise (nicht aber etwa an Schuberts Weisen), die plötzliche (absichtlich unvermittelte) Ent- gegenstellung eines zweiten contrastirenden, herrlich gesangvollen Motivs, nach- dem das erste sich ausgesprochen, ist wiederum mehr in Schumanns Geist, an dessen sinnig-lyrische Weise auch die Cavatine in derselben Sonate mahnen kann. Fast liebenswürdig dünkt uns die Offenherzigkeit, mit welcher uns Speidel im Scherzo der A-dur-Sonate bekennt: er halte das Scherzo der neunten Symphonie für ein außerordentliches Stück (worin er ganz Recht hat); die kleinere, zierlichere, blässere Nachblüthe jenes gewaltigen Scherzo, welche er uns bringt, ist sehr an- sprechend. Reminiscenzenjäger von Profession, welche die nöthige Classicität und die neunte Symphonie im Leibe haben, werden die Aehnlichkeit in Haupt- und Nebenzügen gleich weg haben, um aber zu bemerken, wie fein und geistreich Speidel sein Thema durchführt (z. B. die Engführung des Thema zu Anfang des zweiten Theiles), müßten sie etwas Kenner sein. Auffallend ist die präcise, fast absichtlich knapp gehaltene Fassung der Sätze, während sonst neuere Sonaten-