Page - 227 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

227 August 1872 70 75 80 85 90 95 100 105 110 vom lieben Gott gelernt (worin er ganz Recht hatte), und er hob den guten Franz unter die Sterne, wo er glänzt in sæcula. Sehr viele unserer „aufstrebenden“ Com- ponisten denken anders als weiland Schubert und wissen nicht, „was ihnen fehlt“. Selbst Lehrer der alten, strengen, tüchtigen Schule, wie Sechter in Wien, Dionys Weber in Prag gewesen, fangen an selten zu werden und die Lehrbücher werden dünner, „philosophischer“ – nur kann man daraus, wie aus der Harmonik Richters, wenig oder nach Umständen, wie aus dem berühmten Werke von A.  B. Marx, gar nichts lernen. Die Bücher des alten Dionys Weber über „Harmonielehre“ und „Contrapunkt“ repräsentirten eine kleine Bibliothek, aber wer „gewandelt diese Straße voll Beschwerden“ (wie es in der „Zauberflöte“ heißt), brachte etwas mit, wenn er herauskam. Wie Gesetzesdonner vom Sinai tönte in Lehrstunden des alten Dionys: „Regel ist, daß“ u. s. w., womit er jede musikalische Sünde des Schü- lers heimsuchte. Heut ist das alles anders, – Fortschritt und „freie Genialität“ haben für solche antiquirte Ansichten nur noch ein verächtliches Lächeln und der oberste Grund- satz lautet nicht: „erlaubt ist, was sich ziemt“ oder: „erlaubt ist, was gefällt“, son- dern: „erlaubt ist, was beliebt“. Ein gewisser Altschul, welcher in die böhmischen Wälder nach Weimar ging, wo sich unter Liszts Augen eine musikalische Republik constituirte, „gegen welche Rom und Sparta Nonnenklöster waren“ und welche, wie Herr v. Bülow in einem Momente von Zerknirschung aufrichtig gestanden hat: „zuweilen gern ein wenig Pariser Commune gespielt hatte“ – dieser Altschul also schrieb z. B. ein Klavierstück, das sich in eitel Parallelquinten bewegte. Der Einfall ist am Ende nicht ganz neu; der Mönch Hucbald hat ihn vor ungefähr tausend Jahren auch gehabt. Das fand auch Liszt doch gar zu stark, er soll bei die- ser Gelegenheit gerufen haben: „Es sind noch mehr unter euch, die meinem Grimm reif sind!“ Aber wahrhaftig – man kann von den Herren nicht einmal reden, ohne ungehörig aus der Tonart zu gerathen; nicht mit den „Zukunfts- musikern“ haben wir es hier zu thun, sondern mit einem Vergangenheitsmusiker, mit Johannes Francisci. Er muß schon als achtzehnjähriger Bursche in seiner Kunst ganz tüchtig gewesen sein, denn als sein Vater am 20.  Jänner 1709 gestor- ben, wurde Johannes zum Cantor und Chordirector berufen, „ungeachtet sich an- dere Mitwerber dazu anmeldeten“, und „schier wider Willen“. Diese Stelle versah er drei Jahre und trieb dabei unter Leitung „eines auf der Catheder und Kanzel unvergleichlichen Mannes Herrn Matthias Bel“ griechische und hebräische Studien, aber auch Musik ungemein. Sammler von Bücherraritäten kennen viel- leicht den vorbelobten Bel als Verfasser der Notitia Hungariæ novæ. Auch die PP. Jesuiten ließen „in Ermanglung ihres verstorbenen Capell- meisters“ ihren Kirchenchor unbedenklich von dem Protestanten Francisci leiten. Francisci legte sich nun insonderheit auf die Setzkunst – studirte die Anleitungen von Speer, Herbst u. a. – Matthesons Schriften (der vollkommene Capellmeister, forschendes Orchester, beschütztes Orchester u. s. w. – zum Theile noch heute sehr werthvoll) entzückten ihn: „zu allem diesem gab mir eine große Aufmunterung der musikalische Polyhistor in Hamburg, dessen Orchester ich Anno 1714 siebzig- mal siebenmal geküsset, und mit unersättlicher Begierde gelesen habe: weil mir dasselbe nebst jenem wackeren Stifts-Cantor zu Wurtzen G.  Z. Wagner gleichsam