Page - 236 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

236 August 1872 95 100 105 110 115 120 125 130 135 das Osterlied: „Christ ist erstanden“, da klingt aus Arnolds von Bruck Bearbeitung das merkwürdige: „Ach du armer Judas“, Heinrich Isaaks: „Inspruck, ich muß dich lassen“ lebt mit dem geänderten Texte: „Nun ruhen alle Wälder“, Hans Leo Haslers: „Mein g’müth ist mir verwirret“ in dem Chorale: „O Haupt voll Blut und Wunden“ noch heute fort. Ein höchst wichtiges Document bildet ferner das sogenannte Locheimer Liederbuch. Eine reiche und eigenthümliche Blüthe geistigen, dazu echt nationalen und volksthümlichen Lebens tritt uns in all dem entgegen. Ob nun irgendeine Melodie in irgendeiner Zeit blitzschnelle Verbreitung fin- det und haften bleibt, bis endlich nach Heine’s hübschem Ausdruck „and’re Zeiten and’re Vögel, and’re Vögel and’re Lieder“ bringen, hängt insgemein davon ab, wie die neue Weise den Boden vorbereitet findet. Die Begeisterung über die siegreichen Türkenschlachten des Prinzen Eugen von Savoyen, die Freude, den „Erbfeind“ besiegt, die „Türkengefahr“ (welche zudem meist als kleine Nebengabe die Pest- gefahr mit sich führte) beseitigt zu sehen, bewirkte, daß das herrliche Soldatenlied vom „Prinz Eugenius dem edlen Ritter“ sofort zum unsterblichen Volksliede wur- de, dessen muthmaßliche Entstehung Freiligrath so ansprechend besungen hat. Etwas Aehnliches haben wir in unseren Tagen mit dem Radetzky-Marsch erlebt. Die Welt staunte einen achtzigjährigen Greis von Sieg zu Sieg fliegen zu sehen. Johann Strauß (Vater) hatte eben einen von ihm neu componirten Marsch im Pulte, er nannte ihn „Radetzky-Marsch“ und hätte es kaum glücklicher treffen können. Das Tonstück wurde sofort beinahe zum österreichisch-musikalischen Wahrzeichen; mit seinem frischen, lebhaften, wohlgemuthen, energischen und beinahe lustigen Rhythmus steht es contrastirend, aber keineswegs unwürdig neben der unvergleichlichen Volkshymne Joseph Haydns, die voll Milde, voll reli- giöser Weihe, voll patriarchalischer Würde ist; in diesen beiden Stücken sprechen sich die verschiedenen Seiten des österreichischen Volkscharakters in der an- ziehendsten Weise aus. Das edelstolze, dabei schroffe Rule Britania ist eben so bezeichnend für England wie das vive Henri quatre und das leichtgesinnte Marlbo- rough s’en va t’en guerre für das alte, chevalereske, leichtgesinnte und der Marseiller Marsch für das neue Frankreich. In bewegteren Zeiten ist der Herr zuweilen mächtig in den Schwachen. Der bescheidene Musiker Wilhelm, zu der etwas bedenklichen Classe von Männer- gesangs-Componisten gehörig, hat es sich gewiß nicht im Traume einfallen lassen, daß er durch ein lange componirtes, lange gedrucktes, lange unbeachtet gebliebe- nes Lied, als der rechte Moment kam, eine Art Tyrtäus werden sollte. C.  M. v.  Weber war in dieser Beziehung weniger glücklich. Seine Gesänge zu Theodor Körners „Leyer und Schwert“ sind mitten in der Begeisterung der Kämpfe von 1813, 1814, 1815 entstanden – die ersten und populärsten davon, „Lützows wilde Jagd“ und das herrliche „Schwertlied“, sind am 13.  September 1814 auf dem Schlosse Tonna im Gothaischen componirt, – sie sind das schönste musikalische Denkmal des Geistes, der damals selbst Knaben in den Befreiungskampf trieb, – aber diese Melodien haben nie, so sehr sie es verdient hätten, den Muth der Kämpfenden entflammen geholfen, sie wurden erst publicirt, als die Donner von Waterloo und Belle-Alliance schon ausgetönt hatten.