Page - 237 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

237 August 1872 140 145 150 155 160 165 170 175 180 Zuweilen wandert eine Melodie von den Klavieren der Honoratioren, der Ver- walterstöchter, der musikalischen Stadtschreiber-Gattinnen ins Volk. Die Köchin hört das Fräulein zum öfteren etwas Faßliches singen, die Köchin singt es nach, von der Köchin hört es ihr Liebhaber, der Rauchfangkehrer, Schlossergeselle, Querpfeifer – letzterer, ein musikalisch habiler Mann, flötet die neue Weise in die stille Mondnacht hinein, sie verbreitet sich – nicht lange und alle Welt macht Chorus. Diesen Weg nahm in der sentimentalen Zeit von 1770 u. s. w. das „Guter Mond, du gehst so stille“, das Werther-Lied „Schatten, sei zufrieden, wenn ich weine“ (der Redende oder Singende ist hier Albert), das Siegwart-Lied „Es war einmal ein Gärtner, der sang ein traurig Lied“, das „Blühe, liebes Veilchen“ und, in unsere Tage herüberreichend, das „Alpenhorn“ u. a. m. Das Theater, besonders das Volkstheater, bildet natürlich auch einen Herd der Verbreitung populärer Melodien. Aus dem weiland Leopoldstädter Theater in Wien, so lange es echte Volksbühne war und einen lustig-phantastischen Spiegel des Wiener Volkslebens in seinen liebenswürdigsten Eigenheiten bildete und lachenden Mundes und ohne Moral vom Dache zu predigen, eine wahre Schule heißen konnte, in den Zeiten, wo wir über Stücke wie „Der Bauer als Millionär“, „Der Verschwender“ u. a. m. zugleich aus vollem Halse lachten und uns die Thrä- nen echter Rührung aus den Augen wischten, wurden die frischen, gesunden Melodien, womit Wenzel Müller, Drechsler u. a. die Lieder des Spieles ausstatte- ten, sofort Volksgesänge – das schalkhafte „War’s vielleicht um eins, war’s viel- leicht um zwei“, das lustig-wehmüthige „Brüderlein fein“, das Aschenlied, das Hobellied, die närrische Schilderung des Jagdvergnügens mit dem Refrain „Und ich hab’s halt immer g’sagt, s’giebt nix dümm’res als die Jagd“ – das alles wurde sofort nachgesungen. Mit dem Aufkommen der Nestroy’schen Posse begann diese Quelle des Volksgesanges zu versiegen. Das Lied „Wir wollen in die Stadt marschi- ren“, aus dem bekannten, noch halb Raymund’schen „Lumpaci-Vagabundus“, ist eine der letzten Melodien, die vom Leopoldstädter Theater aus ins Volk drangen. Auffallend wenig wirkt aber die eigentliche Oper für Volksgesang, überhaupt die höhere Musik. Von Beethoven, Schubert u. s. w. ist eigentlich keine einzige Melo- die volksthümlich geworden – es ist als hege das Volk eine Art von Mißtrauen gegen die höhere Kunstmusik. Was für eine Urmelodie ist Beethovens „Freude, schöner Götterfunken“ in der neunten Symphonie! Aber sie ist am Volke wirkungslos vorübergegangen – es er- schrak vor dem Gedränge von Geistern und Dämonen, aus dem in Beethovens Symphoniewerk diese Liedweise auftaucht. Der rechte, echte Rhapsode, der dem Volke seine Melodien singt, ist und bleibt am Ende der Bänkelsänger oder – wir kommen schon wieder auf ihn zurück – der Drehorgelmann. Unter den Aphorismen von Goethe findet sich ein merkwürdiger Ausspruch: „Die Musik ist heilig oder profan. Das Heilige ist ihrer Würde ganz gemäß und hier hat sie die größte Wirkung aufs Leben, welche sich durch alle Zeiten und Epochen gleich bleibt. Die profane sollte durchaus heiter sein. Auf diesen beiden Punkten beweist sie jederzeit eine unausbleibliche Wirkung: Andacht oder Tanz.“ Auf Musik überhaupt, auch die höhere, angewendet, ist der Ausspruch schief und ungenügend, ganz wunderbar treffend wird er, wenn man ihn auf das Volkslied