Page - 249 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

249 September 1872 135 140 145 150 155 160 165 170 175 und ebendort zeigte in Goethe’s „Iphigenia“ das Giebeltympanon des Dianen- Tempels, wie ein Wirthshausschild, einen Halbmond. Ich erinnere mich noch, „Cabale und Liebe“ in moderner Tracht spielen gese- hen zu haben, was bei diesem Stück doch so völlig unmöglich ist wie z. B. in „Minna von Barnhelm“. Man nahm es ehedem bei weitem nicht so streng – und den Dichtern giebt man eben auch große Licenzen: Shakspeare darf zur Zeit des Julius Cäsar die Thurmuhr des Capitols schlagen, im „König Johann“ mit Kar- thaunen feuern lassen, zur Zeit Heinrichs  IV. werden auf Pistols Namen eine Men- ge von der Pistole hergenommene Witze gemacht und verlangt Prinz Heinz von Falstaff eine solche Waffe, – das an der Küste Böhmens strandende Schiff im „Wintermährchen“ hat eine große Berühmtheit erlangt; um nichts besser ist es, wenn in den „beiden Veronesern“ zwischen Verona und Mailand ein lebhafter See- verkehr besteht. Auch Schiller braucht im „Wallenstein“ einmal ganz unbefangen ein vom Gewitterableiter hergenommenes Bild, er benöthigt desselben als Dichter und wendet es also ohne weiters an, obschon er, als Zeitgenosse Franklins, recht gut wußte, wann die Erfindung der Wetterstange gemacht worden. Wie das Thea- ter, so hatten auch die Maler lange Zeit hindurch große Freiheit, ihr Costüm nach Lust und Bedürfniß zu malen. Bei den alten Meistern ist die Sache oft von er- heiternder Naivetät, – die altdeutschen Maler und Holzschneider des 16.  Jahrhun- derts lassen Troja mit Kanonen beschießen und kleiden die belagernden „haupt- umlockten Achäer“ als Landsknechte ihrer Zeit. Die alten Florentiner sind in ihrer Unbefangenheit oft wahrhaft poetisch, – man sehe z. B. Sandro Boticelli’s „Geburt der Venus“ oder Pier di Cosimo’s „Andromeda“ (beide Bilder in der Ufficien) oder des letztgenannten Malers „Venus und Mars“ (im Berliner Museum) – der mythologische Gegenstand wird zum an- muthigsten romantischen Mährchen. Manchmal streift es wohl ins Komische – auf einem (ganz vortrefflichen) Wandbilde in der Capelle Strozzi in S.  Maria Novella zu Florenz giebt Filippino Lippi der Statue des Gottes Mars den zerbro- chenen Schaft einer Turnierlanze in die Hand und kleidet seine Beine in Hosen von Wolfsfell, im Uebrigen hat der Kriegsgott antike Tracht. Die alten Nieder- länder sind nicht so poetisch, aber in ihren Licenzen ungemein treuherzig-naiv – im Stalle zu Bethlehem steht auf dem herrlichen Flügelaltar des älteren Rogier von der Weyden (Pinakothek zu München) ein Crucifix, die van Eyck kleiden auf dem Wunderwerke ihres Genter Altars die Propheten und Sibyllen in die gleichzeitige niederländische Tracht; Pieter Breughel d.  ä. läßt die beiden Schächer von Mön- chen zur Richtstätte begleiten (Belvedere) – und sehr viel später malt Rembrandt die Personen biblischer Vorgänge als Amsterdamer Juden. Aber ist es viel besser, wenn Horace Vernet Abraham und Isaak und Jakob als Kabylen malt, wie er sie in Algerien kennen gelernt? Das ist sicher eben so falsch! Ja, wir danken dem Künst- ler nicht einmal für eine Gewissenhaftigkeit, die leicht ins pedantisch Gelehrte übergeht und uns, statt des frei-poetischen Schaffens der Kunst, eine angewandte Costümekunde vor Augen stellt. Ich habe in Rom das große Relief eines englischen Bildhauers gesehen: Pharao’s Untergang. Es war in Tracht, Waffen, Streitwägen, Schmuck der Rosse die treue Reproduction echter altägyptischer Muster, nur ohne deren Härte und Steifigkeit,