Page - 260 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

260 Oktober 1872 45 50 55 60 65 70 75 80 85 ihre ersten „auswärtigen“ Triumphe und wenn das Andenken Christianens Neu- mann durch Goethe’s herrliche Elegie „Euphrosyne“ verklärt wird, so hat in den Kranz, den sich Clara damals errang, Grillparzer mit seinem, ihren Vortrag der Beethoven’schen F-moll-Sonate feiernden Gedichte eine unverwelkliche Blume ge- flochten. Sie wird heutzutage als „musikalische Classikerin“ bezeichnet, damals hieß sie die musikalische Romantikerin. So verschieden sieht eine und dieselbe Persönlichkeit aus, je nachdem man sie in verschiedene Beleuchtung rückt! Clara Wieck kam damals recht als das musikalische Mädchen aus der Fremde; – sie machte durch ihr ganz unbefangenes, mädchenhaft naives, von polemischen Tendenzen völlig freies Auftreten, durch ihre bloße künstlerische Erscheinung der Klimperwirthschaft à la Henri Herz, die mit ihren brillanten Variationen, brillan- ten Rondos u. s. w. alle Concertsäle beherrschte, ein Ende, sie spielte Chopin, Schumann, Mendelssohn, Henselt – damals in unserem Himmelsstrich „fremde Namen“ – sie spielte sogar J.  S. Bach! Das galt damals, trotzdem daß unter all den jungen Gesichtern auch das eherne Cantorgesicht Bachs erschien, für ein erz- romantisches Programm. Clara Schumanns Programme entsprechen durchaus den Programmen Clara Wiecks und heißen „classisch“, nachdem die Göttin Romantik aus dem Palais Mendelssohn in das Palais Liszt übersiedelt ist. Clara’s Freundin und Kunstgenossin, für diesmal ihre Begleiterin, Frau Joachim wird vor allem wegen ihres Vortrages Bach’scher Arien gepriesen. „Sie betet, wenn sie singt“, sagte mir kürzlich ein musikalischer Freund aus Nord-Deutschland. Der alte Thomaner-Cantor, den wir in der vorigen Saison einigermaßen aus den Augen verloren haben, dürfte uns also diesmal ziemlich oft begegnen. Welche Veränderung der Dinge auch hier! Als vor Jahren Professor Joseph Fischhof, damals der Wiener „Bachant“, einmal das große D-moll-Concert spielte, ein Werk, neben dessen erstem Satze vielleicht, was übermächtige Großartigkeit betrifft, nur noch ein anderes Stück derselben Tonart, nämlich der erste Satz der neunten Symphonie Beethovens genannt werden darf – da sprach die (damalige) Kritik halb ironisch von dem „gothischen Klaviergeflecht des großen Sebastian“ – und als einmal Fischhof die A-dur-Sonate (mit begleitender oder vielmehr poly- phon eingreifender Violine) zu Gehör gebracht und an demselben Musikabend auch ein Streichquartett von Haydn ausgeführt worden war, schrieb ein Kritikus (wahrlich, ich möchte so geistreich sein, als sich der Mann beim Niederschreiben seines Dictatums vermuthlich dünkte): „Haydns Quartett habe die Wärme einer Kinderstube (!), Bachs Sonate die Kälte einer protestantischen (!) Kirche.“ So etwas ist heutzutage, dem Himmel sei Dank, doch nicht mehr möglich, obwohl mit- unter noch recht viel möglich ist und wir dazu lächeln gelernt haben, wenn man uns z. B. gelegentlich Mozart verblümter und Gluck unverblümter Weise als ver- altet und nicht mehr hörenswerth schildert und wenn manche kritische Tinten- fässer zu Petroleumbüchsen werden, mit denen die Prachtbauten jener hohen Meister in Brand gesteckt werden wollen, und das alles nur, damit Raum werde, daß einziehe der König der Ehren und keine Götter auf Erden seien neben ihm. Wir aber dürfen kühn sagen: kommt einmal der Moment, wo man Mozart nicht mehr als das erkennt, was er ist, werden wir auf musikalischem Gebiete bei der richtigen musikalischen Barbarei angekommen sein. Man kann indessen einst-