Page - 268 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

268 Oktober 1872 45 50 55 60 65 70 75 80 85 schön wie möglich zu lösen – der zu hoffende Applaus steht in zweiter Reihe, ob- wohl ich durchaus nicht behauptet haben will, als verschmähe Frl. Schröder etwa (mit Goethe zu sprechen) „das willkommene Geräusch zusammenschlagender Hände“. Einen unverkennbar und entschieden bildenden Einfluß auf sie hat ihr Auf- enthalt in Paris gehabt, wo sie 1867 im Théâtre lyrique die Agathe im „Freischütz“ u. a. m. mit Glück und Erfolg sang. Die Pariser Post pflegte ehedem Briefe, die durch Paris gelaufen waren, mit PPP zu bezeichnen, was bedeuten sollte: „passée par Paris“. Dieses PPP (nicht zu verwechseln mit den sieben P, welche der schwert- bewaffnete Engel am Fuße des Fegfeuerberges Dante auf die Stirne zeichnet) glaube ich auf Frl. Schröders Stirn deutlich genug zu lesen. In der Rolle der Philine lernten wir Frl. Schröder auch als dramatische Darstellerin schätzen; ihre Philine war eine Gestalt voll Anmuth, Laune und Schalkhaftigkeit – allerdings nicht die Philine Goethe’s, dieses unaussprechlich leichtsinnige, aber auch unwi- derstehlich liebenswürdige Geschöpf, dem wir nicht gram sein können, ob ihm gleich alle sieben Dante’sche P auf der Stirne stehen, – die Philine der französi- schen Oper ist nun eben auch etwas völlig Anderes als die Philine unseres großen Dichters, sie ist, ungeachtet ihr fahrendes Komödiantenthum im Texte wiederholt betont wird, eine feine Weltdame, der sich kein Salon verschließen dürfte und deren graziös- coquetter Zug ihr dabei nicht im mindesten zum Nachtheile dient und mit dem bedenklichen Original-Leichtsinn der Original-Philine wenig oder nichts gemein hat. Ueberhaupt muß man bei Text und Musik der französischen „Mignon“ und bei Goethe’s „Wilhelm Meister“ an den guten Rath Goethe’s denken: „Ihr müßt, so lehr’ ich allsogleich, eins ums and’re vergessen, das ist die Kunst, das ist die Welt, daß eins ums andere gefällt.“ Wenn wir auf dem Theaterzettel die bekannten Namen des Romans lesen, im Laufe der Handlung einzelne Motive des Romans, aber wunderlich umgedeutet, wiederfinden, ja stellenweise Goethe’s eigene Worte hören, aber Alles so gar seltsam verschoben und verändert und umgefärbt, so kann uns zu Muthe werden, wie zuweilen wenn uns der Traumgott neckt und uns durchaus bekannte Orte seltsam anagrammatisch umgestaltet vorgaukelt: wir tre- ten z. B. in die Peters-Kirche zu Rom, aber an der Wand gegenüber erscheint Raphaels „Schule von Athen“, unter der rechts und links der „Apoll von Belvedere“ und Michel Angelo’s „Moses“ in Eintracht aufgestellt sind, aus dem Seitenschiffe wird auf der sella gestatoria der Portier des Hauses, das wir bewohnen, hereingetra- gen u. s. w. „Qu’en dit Mr. Goeth?“ fragte Napoleon bei der berühmten Weimarer Audienz wiederholt unseren Dichter. „Qu’en dit Mr. Goeth?“ tönt uns unwillkühr- lich im Geiste, wenn wir Thomas’ „Mignon“ oder Gounods „Faust“ sehen. Wenn Goethe in seinen Lebenserinnerungen von seinem Aufenthalte in Straßburg er- zählt: „hier auf französischem Boden sei er alles Französische gründlich losgewe- sen“, so kann man sagen, daß, gleichsam zur Wiedervergeltung, die französischen Librettisten auf Goethe’schem Boden alles Goethe’sche gründlich los sind. Was Thomas’ Partitur betrifft, so kann ich gar nicht sagen, wie nobel und distinguirt mir, der ich eine Zeitlang auf Offenbach’sche Kost gesetzt gewesen, diese Musik diesmal vorkam.