Page - 294 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

294 Oktober 1872 20 25 30 35 40 45 50 55 60 derzuschreiben! Einen bloßen Copisten, einen musikalischen Stenographen, soll- te man meinen, hätte es ermüden müssen, alle diese schier zahllosen Blätter voll- zuschreiben, und nun gar den Componisten, der das alles aus seinem Geiste heraufholen mußte! Und so hat sich denn kürzlich abermals ein Schatzkästlein aus Schuberts Nachlaß geöffnet und Kostbarkeiten funkeln uns entgegen. Der rastlos thätige Verleger J.  P. Gotthard, welcher (selbst fein gebildeter Musiker und talentvoller Componist), den gewöhnlichen Verlegertraditionen straks zuwider, bei einem neu- en Werke vor Allem fragt: „ist es gut und schön?“ und nicht: „was wird es ein- tragen?“ hat das Glück gehabt (denn ein Glück kann man es wirklich nennen) eine Anzahl Schubert’schen [sic] Liedermanuscripte auszuforschen, welche bisher theils nur dem Namen nach, theils gar nicht bekannt gewesen sind. Und nicht etwa matte Nachblüthen der großen Schubert’schen Flora, sondern fast durchaus Tonsätze und Tonsätzchen von Werth und Bedeutung, ja Einiges zu dem Besten zählend, was Schubert geschaffen. Und gleich deren vierzig auf einmal. Fürwahr ein reicher musikalischer Petrus-Fischzug, während andere Verleger oft genug die „ganze Nacht arbeiten und nichts fangen“ – ein musikalisches Terno. Wir gratuliren. Das Wort, welches Goethe seiner Leonore von Este in den Mund legt: „es ist vortheilhaft, den Genius bewirthen: giebst du ihm ein Gastgeschenk, so läßt er dir ein schöneres zurück“ – dieses Wort bewährte sich auch an Franz Schubert. Als Gast in den großen, reichen Stiften Oesterreichs auf seinen Sommerwande- rungen zusprechend, fand er die freundlichste Aufnahme, denn dort versteht man sich auf gute Musik und auf Gastfreundschaft. Schubert aber ließ, fast wie Andere sich einfach ins Fremdenbuch einzeichnen, Manuscripte von Lieder- compositionen zurück, denen man in ihrer Kürze, aber auch in ihrer Frische an- sieht, daß sie die Inspirationen glücklicher Lebensmomente sind. Es waren vor- züglich die Stifte Göttweih, St.  Florian u. s. w., wo der Herausgeber den nun für alle Welt zugänglich gewordenen Schatz hob. Schubert selbst kümmerte sich nicht weiter darum, fühlte er doch, wie reich er sei und wie unerschöpflich sein Vorrath. Blättern wir die Liederhefte durch, so dürfen wir über den Reichthum, der uns hier begegnet, wohl erstaunen; da sind Stimmungsbilder der verschiedensten Art – von der heiteren Tändelei, dem flüchtigen Scherz, der munteren Lebenslust: bis zum feierlichen Ernst, der leisen Wehmuth, der verzehrenden Sehnsucht, der tie- fen Trauer – vom anmuthigen Kinderliede bis zur feierlichen Hymne. Die meisten Gesänge sind kurz, sie füllen zwei, höchstens drei Blattseiten, ja manche davon nur Eine, viele davon sind Strophenlieder, manche aber haben einen ganz stattlichen Umfang, sind durchcomponirt, wie die „Nachthymne“ nach Novalis und der „Flüchtling“ nach Schiller. Wenn man letzteres Poem Schillers unter den „Gedich- ten der ersten Periode“ liest, so begreift man nicht recht, wie es möglich sein soll, diesen Bild an Bild drängenden, an Klopstocks Wortpomp erinnernden Versen und ihrer rand- und bandlosen Metrik Musik zu entlocken. Aber unter Schuberts Hand klang und tönte eben Alles in musikalischem Wohllaut. Doch wäre es irrig zu meinen, es sei eben ganz alleseins gewesen, was er componirte – schwache Poe-